Die amerikanischen Verhältnisse müssen uns eine Warnung sein Wolfgang Kubicki 30.01.2021 NZZ NZZ Gastkommentar Wolfgang Kubicki 219 Kommentare Politische Unterlassungen in der Pandemie werden derzeit mit härteren Massnahmen beantwortet. Das treibt einen Keil tief in die liberale Gesellschaft und macht die Pandemie zunehmend zur Glaubensfrage. «Eine Partei ist kein Mädchenpensionat», sagte Willy Brandt einmal Ende der 1960er Jahre, damals Vorsitzender der SPD. Für heutige Verhältnisse mag dieses Zitat chauvinistisch klingen, sein inhaltlicher Kern lässt sich aber auf unsere gegenwärtige Debattenkultur übertragen. Wer nach draussen geht und seine Gedanken vorträgt, begreift schnell, dass er sich ein dickes Fell wachsen lassen muss, um nicht untergepflügt zu werden. Gerade die Corona-Pandemie hat in Deutschland eine Entwicklung beschleunigt, in der Wut, Hass und Denunziation fröhliche Urständ feiern, in der Respektlosigkeit und Unfairness als legitime Umgangsformen gesehen werden und in der viele in einer Lagerbildung und Wagenburgmentalität einen psychologischen Halt suchen und finden. So versammeln sich Menschen, die dem Charité-Virologen Christian Drosten das wissenschaftliche Alleinvertretungsrecht zuschreiben, und verbreiten den Hashtag #SterbenmitStreeck, weil der Bonner Kollege als Drostens Counterpart gilt und damit angeblich als gemeingefährlich abgestempelt werden kann. Drosten selbst wiederum bekam von anderer Seite schreckliche Morddrohungen. Im Zweifel wird die Menschenwürde hintangestellt, wenn es darum geht, triumphierend aus einer Diskussion zu kommen. Die Politik sendet ein fatales Signal Wir erleben bei vielen Auseinandersetzungen auf sozialen Netzwerken, dass die individuelle Selbstbehauptung zur Maxime der öffentlichen Debatte wird. Man benötigt am Ende nur die Claqueure der eigenen Blase, die einem ungeteilte Zustimmung geben. Ein Austausch zwischen verschiedenen Positionen, ein Ringen um das bessere Argument, geschweige denn ein durch Diskussionen erzielter Fortschritt findet so aber nicht mehr statt. Die Spaltung der Gesellschaft, vor der immer gewarnt wurde, ist in Teilen Realität. Wenn die Worte nicht mehr ausgetauscht werden, werden es irgendwann die Fäuste sein. Das gilt nicht nur in Deutschland: Die amerikanischen Verhältnisse sollten uns eine Warnung sein. Hinzu kommt, dass rechtsstaatliche Erwägungen und verfassungsrechtliche Fragen immer häufiger dem politischen Nützlichkeitsgedanken unterworfen werden. Ober- und Verfassungsgerichte hoben in Dutzenden von Urteilen bisherige Corona-Massnahmen wieder auf und zeigten zwar, dass die Judikative letztlich über die Wahrung des Rechtsstaates wacht. Gleichwohl muss es einen Liberalen mit Sorge erfüllen, wie leichtfertig die Bundesregierung und einige Landesregierungen unsere Rechtsordnung übertreten haben und damit das fatale Signal aussendeten: Die verfassungsrechtlichen Leitplanken werden so lange akzeptiert, wie sie dem eigenen politischen Willen nicht im Wege stehen. Die rechtlich fragwürdige und vollkommen willkürliche «Corona-Leine» von 15 Kilometern ist nur ein Zeugnis dieser Denkweise. Nehmen wir diese und andere Erfahrungen des Jahres 2020 zusammen, können wir mit Blick auf das noch junge Jahr 2021 konstatieren: Es stand schon einmal besser um die offene Gesellschaft, um den Freiheitsgedanken und um unsere freiheitliche Ordnung in Deutschland. Oder noch etwas schärfer formuliert: Ich kann mich an keine Phase der bundesrepublikanischen Geschichte erinnern, in welcher der Verzicht auf unsere Freiheitsrechte von relevanten Teilen der Öffentlichkeit derart euphorisch beklatscht wurde wie derzeit. Unmut zieht ein Die Auseinandersetzung mit Corona hat eine gesellschaftliche Spaltung begünstigt, die sich durch viele Ebenen zieht. Für manche kann der Lockdown zum Beispiel gar nicht hart genug sein. Während die einen in Kurzarbeit gedrängt werden oder vor den Scherben ihrer beruflichen Existenz stehen, fordern meistens diejenigen härteste Grundrechtsbeschneidungen, die hiervon am wenigsten betroffen sind. Menschen, die ihr Gehalt regelmässig weiter bekommen, oder auch manche Journalisten, bei denen die apokalyptische Lust so gross ist, weil sie als Privilegierte trotzdem weiter auf die leere Strasse gehen dürfen, um darüber zu berichten. Zwar ergeben Umfragen noch eine Mehrheit für die Politik der Bundesregierung. Wer sich allerdings in seinem unmittelbaren Umfeld umhört, stellt fest, dass der Firnis der Einhelligkeit doch ziemlich dünn ist. Der Blogger Sascha Lobo brachte es vor kurzem auf den Punkt: Ein grosser Teil der deutschen Regierungspolitik unterschätze «die Vollheit der Schnauze der Leute, die weder Corona verharmlosen noch gegen wirksame Schutzmassnahmen» seien. Leute, die eine Pandemiepolitik erwarten würden, «die den Möglichkeiten dieses reichen, eigentlich gut funktionierenden Landes halbwegs gerecht wird». Der Unmut zieht langsam, aber machtvoll in die politische Mitte – also dorthin, wo die Corona-Disziplin bisher noch immer am grössten war. Pandemie wird zur Glaubensfrage Je grösser die Zahl der Unzufriedenen wird, umso weniger geht die bisherige Strategie einiger politischer Akteure auf, diese Menschen aus dem öffentlichen Diskurs auszugrenzen. Wer die intellektuell reichlich einfältige Bezeichnung «Covidioten» oder die Klassifizierung «rechtsradikal» als legitime Charakterisierungen für sämtliche Kritiker der Corona-Massnahmen wähnt, der muss erleben, dass dieses Stilelement am Ende nicht nur stumpf wird, sondern wie ein Bumerang gnadenlos zurückfliegt. Denn dann drängt sich unaufhaltsam der Eindruck auf, dass die Diskreditierung von Menschen als billiger Ersatz für eine seriöse und lösungsorientierte Politik verwendet wird. Es ist zwar leichter, «die Leute», die sich angeblich an den Glühweinständen tummelten, für die Corona-Toten verantwortlich zu machen. Es wirft aber die Frage zurück, was «die Politik» bisher in ihrem Aufgabenfeld unternommen hat, um diese Toten zu verhindern, oder wer eigentlich die politische Verantwortung für die monatelange Nicht-Verteilung von FFP2-Masken an Ältere trägt, für die monatelange Nicht-Testung des Personals in Altenheimen und für die völlig unzureichende Versorgung mit Impfdosen. Und wenn die Menschen erleben, dass diese politischen Unterlassungen dann mit härteren Massnahmen und noch tiefer gehenden Eingriffen in die persönliche Sphäre jedes Einzelnen beantwortet werden, treiben politische Entscheidungsträger einen grösseren Keil in die liberale Gesellschaft. Mittelalterliche Erklärungsmuster Durch die fehlenden Begründungen für diese Einschnitte wird die Bekämpfung der Pandemie zur Glaubensfrage. Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit, sich in Kunstausstellungen anzustecken, fast null. Geschlossen wurden sie trotzdem, aus Solidarität. Das Robert-Koch-Institut (RKI) stellte fest, die Gastronomie sei kein Infektionstreiber, trotzdem mussten die Betriebe schliessen. Während in der einen Situation die Worte des RKI als sakrosankt angesehen werden, werden sie an anderer Stelle ignoriert. Die Menschen sahen, dass Irland einmal als leuchtendes, anschliessend als warnendes Beispiel für Deutschland bezeichnet wurde – beide Male frei von wissenschaftlicher Evidenz. Der blosse Glaube an die Richtigkeit der Massnahmen lässt Kritik dann wie Häresie erscheinen. Die freie Gesellschaft, die auf den Errungenschaften der Aufklärung entstand, sieht sich plötzlich mit mittelalterlichen Erklärungsmustern konfrontiert. Zu Beginn des Wahljahres 2021 ist die offene Gesellschaft also geschlossener, als es jedem Liberalen lieb sein kann. Es wird eine grosse Kraftanstrengung aller demokratischen Parteien notwendig sein, den öffentlichen Diskurs wieder in verträgliche Bahnen zu lenken. Niemand will Verhältnisse wie in den USA, wo die Sprachlosigkeit oft nicht mehr friedlich überwunden werden kann. Den geistigen Wirrungen, in denen wir uns befinden, können wir nur mit den Klassikern des demokratischen Zusammenlebens begegnen: mit Respekt für das Gegenüber, mit Offenheit für andere Sichtweisen. Gelingt uns dies nicht, werden sich gesellschaftliche Konflikte nicht mehr friedlich entladen. *Wolfgang Kubicki* ist Rechtsanwalt, stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP und Bundestagsvizepräsident
Susanne Benz vor einem Tag 117 Empfehlungen Leider habe ich mittlerweile auch den Eindruck, in einem binären System zu leben. Es gibt nur noch schwarz oder weiß, ja oder nein, gut oder böse. Die Zwischentöne sind verschwunden. Dieser Prozess fing schleichend an und nahm meiner Meinung nach 2015 richtig Fahrt auf, als von höchster Stelle gesagt wurde, wenn man die Grenzöffnungen nicht gut fände, dann sei das nicht mehr ihr Land. Danach wurde von dieser Stelle immer wieder die Vokabel alternativlos gebraucht. Was bedeutet dieses Wort? Es bedeutet, dass es nur eine Meinung, nur eine richtige Handlung gibt und sonst nichts. Jede abweichende Meinung wird mit dem Wort „alternativlos“ direkt als falsch und schlecht diskreditiert. Nicht der rechte Rand, nicht der linke Rand, nein es war die sogenannte politische Mitte, die diese Teilung verursacht hat. Links und Rechts gab es schon immer, wird es wahrscheinlich auch immer geben, mal ein paar mehr mal ein paar weniger, aber dass die Mitte alles in gut und böse teilt ist neu und sorgt eben für diese Spaltung. Man spürt es immer und überall, man trifft Freunde, Bekannte, Familie, und sobald politische Themen angesprochen werden stehen sich sofort zwei Lager unversöhnlich gegenüber, die, die auf Regierungswelle liegen und jede Handlung von dort als alternativlos sehen und die, die Alternativen auf Lager haben, die die sagen, es gibt auch die Farbe grau! Früher wurden die Menschen, die nicht nur entweder oder kannten, als vernünftig bezeichnet! Susanne Benz, Eisenberg/Pfalz F. F. vor einem Tag 99 Empfehlungen Danke für diesen Kommentar. Die gesellschaftliche Spaltung in sog. Corona-Gläubige und Corona-Skeptiker reicht mittlerweile bis in die Ebene der persönlichen Begegnung hinein. Man hat gelernt, das Gegenüber schnell einzuschätzen und abzuwägen, wie weit man in seinen Aussagen zur behördlichen Corona-Politik gehen darf. Weil man nicht überall den sozialen Selbstmord riskieren will, lernt man auch zu schweigen. Die zunehmende Selbstzensur auch im engen Familien- und Freundeskreis finde ich noch belastender und auch gefährlicher als die mediale Diffamierung von Leuten, die öffentlich an der Angemessenheit der "Massnahmen" zu zweifeln wagen.