Weshalb Wissenschafter nicht die Corona-Politik bestimmen dürfen Hans-Peter Bartels 22.03.2021 NZZ NZZ Aus der Perspektive der Labore und experimentellen Lehrstühle sieht man die Welt anders, als sie in der Realität ist. Ganz zu schweigen von der Funktionsweise der Politik im real existierenden demokratischen Verfassungsstaat. Es ist ein Missverständnis, dass Professoren der medizinischen Fakultäten dazu berufen sein sollten, das grosse Ganze zu überblicken und zu dirigieren. Karin Hofer / NZZ Der junge Albert Einstein wurde einmal in Zürich von einem Bekannten auf seinen nachlässigen Kleidungsstil angesprochen. Der Physiker soll entgegnet haben: «Aber hier kennt mich doch keiner!» Jahrzehnte später trafen die beiden im amerikanischen Princeton wieder aufeinander, und wieder kam das lässige Äussere des inzwischen weltberühmten Nobelpreisträgers zur Sprache. Nun antwortete dieser: «Das macht nichts, hier kennt mich sowieso jeder!» Im vergangenen Jahr haben wir ganze Heerscharen von Wissenschaftern neu kennengelernt, die uns die Welt des Seuchenschutzes erklären. Was sie äusserlich zur Schau stellen, ist uns nicht wichtig, Kostüm oder Kapuzenpulli, Kittel oder Sakko, Pferdeschwanz, Glatze oder Wuschelkopf – egal. Aber was für Leute sind das eigentlich? Was wissen, was können sie, was sollen sie dürfen? Gelernt haben wir von ihnen in der frühen Phase des Seuchenzuges, kurz nachdem die ersten autoritativen Einschätzungen «nicht schlimmer als eine Grippe» und «Masken nützen nichts» wieder zurückgezogen waren, dass Viren durch «Kontakte» übertragen werden. Je weniger Kontakte zwischen Menschen, desto weniger Ansteckungen mit der Krankheit. Keine Kontakte – keine Ansteckungen mehr, siehe China. Darauf käme die Regierung durch eigenes Nachdenken zur Not wohl auch selbst, aber für politische Entscheidungsträger ist es allemal ein besseres Faktenfundament, wenn «die Wissenschaft» mitteilt, wo der Seuchenherd exakt zu finden ist: im gewöhnlichen menschlichen Miteinander. Totschlagargumente Bertolt Brecht ruft in seinem berühmten Lehrgedicht «Der Zweifler» die Wissenschafter auf, immer selbstkritisch zu bleiben: «Wie handelt man, wenn man euch glaubt, was ihr sagt?» Scheint es also nicht zu eindeutig, wenn die wissenschaftliche Hauptbotschaft von den Handelnden so verstanden werden kann, dass jeder mögliche Kontakt den Tod bringen könnte? Müssten nicht deshalb «Massnahmen» zur Freiheitsbeschränkung maximal sorgfältig nach Übertragungswahrscheinlichkeit und Sterberisiko differenzieren? Und dass die Lebensgefahr, wie wir inzwischen wissen, für einen Achtzigjährigen unendlich viel grösser ist als für eine Dreissigjährige, darf das der Einfachheit halber in den Bereich der Fake-News gerückt werden? Auch Fünfundzwanzigjährige seien schon an dem Virus gestorben, lautete lange das politmedizinische Totschlagargument. Die Naturwissenschafter haben offenbar manchmal ein seltsames Bild von der Gesellschaft, in der sie selbst leben, vor Augen: Menschen sind da reduziert auf ihre Eigenschaft als potenzielle Virenschleudern, Geselligkeit gilt als lasterhaftes Heraufbeschwören der Intensivstation, Freiheit ist gefährlich. «Follow the Science!» Weil die politischen Entscheider Ratschläge von «der Wissenschaft» erwarten, begeben sich Virologen und Epidemiologen, Ethiker und Mathematiker (nach kurzem Zögern) auf ein ihnen völlig fremdes Terrain und versuchen ganze Gesellschaften im Ausnahmezustand zu steuern. «Follow the Science!» Möge die Politik der Wissenschaft folgen! Und tatsächlich möchten in Deutschland Ministerpräsidenten und Bundesregierung lieber mit Sachzwängen argumentieren, als Abwägungsentscheidungen zwischen individuellen Grundrechten und staatlichen Schutzpflichten normativ begründen zu müssen. Niemand hat die Regierungsexperten demokratisch gewählt. Bundeskanzlerin Angela Merkel, selbst eine Physikerin, hat sie freihändig auserwählt. Doch was, ausser ihrem Expertentum, geht in ihre Ratschläge ein? Welche Weltbilder? Welche Interessen? Welche Literatur haben sie gelesen, welche Filme gesehen? Was wissen sie über unsere Geschichte, und was stellen sie sich unter Politik vor? In einer Jubiläumsschrift zum Wirken der Akademie für Politische Bildung Tutzing hat der Politikwissenschafter Heinrich Oberreuter einmal beklagt, wie wenig eigentlich hochgebildete Leute, seien es Professoren oder andere Bildungsbürger, über die tatsächliche Funktionsweise der Politik im real existierenden demokratischen Verfassungsstaat wüssten. Auch vielen akademischen Fachidioten gilt Parteienstreit als etwas Schlechtes, und Kompromisse erscheinen ihnen prinzipiell als faul. Der Schriftsteller Thomas Mann war in seinen jüngeren Jahren ein solcher Philister: «Ich will nicht Politik», schrieb er 1918 in den «Betrachtungen eines Unpolitischen»: «Ich will Sachlichkeit, Ordnung, Anstand.» (Später engagierte er sich aus den Exil heraus dann doch für die Demokratie, gegen die Nazidiktatur.) Gesunder Menschenverstand ist gefragt Aus der Perspektive der Labore und experimentellen Lehrstühle sieht man die Welt anders, als Parlamente und Regierungen sie sehen. Das gilt auch für Schulen und Kirchen, Kultur und Sport, Gastronomie und Einzelhandel. Nicht zu vergessen die Perspektive der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in ihrer unabdingbaren Eigenschaft als Grundrechtsträger. Nikolaus von Bomhard, langjähriger Vorstandsvorsitzender und derzeitiger Vorsitzender des Aufsichtsrats der Munich Re, ein wirklicher Risikoexperte, vertritt die Meinung, dass man sich in Krisen und Katastrophen sehr wohl – auch – an seinem «Bauchgefühl» orientieren darf. Die gesammelte Erfahrung lehrt zum Beispiel, dass man mit einer ansteckenden Krankheit Alte und Kranke besser nicht besucht. Und: Allein auf einer Parkbank unter Bäumen zu sitzen, ist nicht gefährlich, ausser vielleicht bei Gewitter. «Der gesunde Menschenverstand ist zu erstaunlichen Leistungen fähig, wenn es um Risikoeinschätzung geht», so der Chef der grössten Rückversicherungsgesellschaft der Welt in einem Aufsatz in der «FAZ» über schwarze Schwäne. Es ist ein Missverständnis, dass einerseits Professoren der mathematisch-naturwissenschaftlichen und medizinischen Fakultäten heute dazu berufen sein sollten, das grosse Ganze zu überblicken und zu dirigieren, und dass andererseits die Staatsbürger ohne akademisches und obrigkeitliches Regime ihr Gemeinwesen leichtfertig in den Abgrund reissen würden. Richtig ist: Die einen sind nicht berufen, die anderen sind nicht leichtfertig. Unsere Disziplin Den spezifischen Sachverstand der Fachleute muss man ehren und nutzen. Aber man muss ihnen nicht gleich das ganze Land anvertrauen. Politisches Abwägen, Entscheiden und Begründen bleibt eine Domäne der legitimierten Verfassungsorgane. Diese können sich ihrer Pflicht auch nicht entziehen, so gern sie das vielleicht auch wollten. Den Bürgerinnen und Bürgern, ihren Wählerinnen und Wählern, dem Souverän sollten sie mehr zutrauen als das blosse Befolgen von Regeln nach dem derzeit auf Plakaten hochgehaltenen Motto: «Meine Disziplin ist unsere beste Medizin.» *Hans-Peter Bartels* war Abgeordneter des Deutschen Bundestags (SPD) und ist Gastwissenschafter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.