Reden und reden lassen: Plädoyer für eine Rückkehr zur Debattenkultur Gerhard Schwarz und Stephan Wirz 25.09.2020 NZZ Die «Zulassung» zur gesellschaftlichen Debatte darf nicht davon abhängig gemacht werden, wie richtig oder falsch eine Meinung, wie gut oder böse eine Gesinnung ist. Menschen, die vom Mainstream abweichen, werden immer häufiger an Auftritten und Publikationen gehindert. Sarah Silbiger / EPA Es braucht kaum eine besondere Betonung, dass es verwerflich ist, Menschen in Wort und Schrift herabzuwürdigen oder gar zum Hass gegen sie aufzurufen. Heute erleben wir aber, dass nur schon das «Zur-Sprache-Bringen» unliebsamer Ideen oder die Verwendung heikler Begriffe als Hass interpretiert werden. Die Empörung über solche angebliche Äusserungen des Hasses genügt, um den Diskurs zum Schweigen zu bringen. Das ist eine Bedrohung der demokratischen Debatte und rüttelt an den Grundlagen der offenen Gesellschaft. Schon vor über 160 Jahren beobachtete John Stuart Mill in seinem Klassiker «On Liberty», dass jene, die die herrschende Meinung bestimmten, Personen mit anderen Auffassungen Hass und Beleidigungen vorwürfen und sie als unmoralisch bezeichneten. Mill war an einer fairen Diskussion gelegen, aber zugleich war für ihn klar, dass sie Raum für alle Argumente bieten muss. «Cancel culture» Leider kommt es in jüngster Zeit in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Medien oft vor, dass Menschen, die vom Mainstream abweichende Meinungen vertreten, an Auftritten und Publikationen gehindert werden. Man spricht von «cancel culture». Organisationen und Unternehmen, die solche Personen unterstützen, werden für ihre «falsche Gesinnung» getadelt, durch Boykottaufrufe und den Entzug von Aufträgen eingeschüchtert und dazu genötigt, sich von diesen Personen zu distanzieren. Der Einwand, eine Ausladung von der Universität, dem Fernsehen oder einem Theater sei nicht so schlimm, da es sich nicht um ein Auftrittsverbot handle und die betroffene Person andere Kanäle finde, stellt eine Verharmlosung dar. Auch die Vergangenheit ist nicht vor diesen Verirrungen geschützt. Literatur und Oper, Städte und Landschaften sowie das Alltagsleben werden nach rassistischen, sexistischen oder anderen «beleidigenden» Spuren durchforstet, um dann deren Tilgung zu fordern. Dabei liegt das Problem in der Übertreibung. Es ist grotesk, dem, der ein «Zigeunerschnitzel» isst oder Shakespeares «Othello» liest, rassistisches Denken zu unterstellen. Dagegen erfordert der Umgang mit Denkmälern und historischen Bauten grössere Differenzierung. Sosehr es verständlich ist, dass Denkmäler oder Herrschaftsarchitektur von Diktatoren wie Hitler, Stalin oder Mao abgerissen werden (was ja nicht überall geschehen ist), so sehr ist es absurd, die Erinnerung an bedeutende Persönlichkeiten aus den Stadtbildern zu entfernen, weil es auf ihrer Weste – oft dem damaligen Zeitgeist geschuldete – dunkle Flecken gibt. Nicht das Auslöschen hilft gegen Geschichtsklitterung und die Verherrlichung von Unmenschlichkeit, sondern Aufklärung und Bildung. Daher sind die problematischen Seiten der Geschichte ein besonders starkes Argument für lebendige Debatten. Lust an der Auseinandersetzung Die «Zulassung» zur gesellschaftlichen Debatte darf nicht davon abhängig gemacht werden, wie richtig oder falsch eine Meinung, wie gut oder böse eine Gesinnung ist. Wir sollten wie John Stuart Mill darauf vertrauen, dass die Gesellschaft mit irrigen Meinungen umgehen kann. Vor allem aber sollten wir ihm in der Überzeugung folgen, dass weder ein einzelner Mensch noch die Gesellschaft als Ganzes im Besitz der absoluten Wahrheit ist. Daher brauchen beide – Mensch und Gesellschaft – für den Erkenntnisgewinn die offene Auseinandersetzung mit verschiedensten Positionen und selbst mit irrigen Vorstellungen. Das heisst: Auch jene, die nicht die Genderschreibweise befolgen, haben ein Recht, sich an der politischen Auseinandersetzung zu beteiligen. Auch die, die sich für das ungeborene Leben einsetzen, haben das Recht, ihre Argumente öffentlich vorzutragen. Das Gleiche gilt für alle, die den anthropogenen Anteil am Klimawandel oder die Covid-19-Politik anders einschätzen als die Mehrheit, die die Marktwirtschaft durch eine Postwachstumsökonomie ersetzen wollen, die sich für die Verstaatlichung der Produktionsmittel einsetzen oder die die These vertreten, der Mensch könne sein Geschlecht beliebig bestimmen. Es geht nicht um links oder rechts, konservativ oder progressiv, moralisch «richtig» oder «falsch», sondern allein um die in einer Demokratie nötige Möglichkeit, seine Meinung frei vortragen zu können. Die zukunftsoffene Gesellschaft lebt von der Lust an der Auseinandersetzung, in der es um das bessere Argument und nicht um die vermeintlich edlere Gesinnung geht. Europa braucht wegen seiner trüben Geschichte solche Debatten nicht zu scheuen. Der Empörung haftet dagegen dort, wo ein demokratischer Diskurs möglich ist, etwas Unlauteres an. Sie ähnelt der «Schwalbe», mit der man sich im Fussball durch Theatralik einen Vorteil gegenüber dem Gegner zu verschaffen versucht. Wir sollten von der Empörungskultur wieder zur Debattenkultur zurückfinden. *Gerhard Schwarz *ist Ökonom und Präsident der Progress Foundation; davor war er Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und Direktor von Avenir Suisse. *Stephan Wirz* ist Theologe und Titularprofessor für Ethik an der Universität Luzern. Ende September erscheint bei NZZ Libro das von den Autoren herausgegebene Buch «Reden und reden lassen. Anstand und Respekt statt politische Korrektheit».