Peter Sloterdijk - Mehr Freiheit oder mehr Zwang - Hand aufs Herz: Wie hältst du’s mit deinem Staat? René Scheu 09.02.2021 NZZ NZZ Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk denkt in einem neuen Grossinterview über den «semisozialistischen» und «semidiktatorialen Staat» der Gegenwart nach. Die Lektüre ist aufschlussreich – bis auf ein Wort. René Scheu 69 Kommentare 09.02.2021, 05.30 Uhr Denkt scharf und ist zuverlässig unfrisiert: Peter Sloterdijk. Peter Sloterdijk darf als Hüne unter den Denkern der Gegenwart gelten. Imposant ist nicht nur seine breitschultrige Gestalt (mit der zuverlässig unfrisierten Haarpracht), eindrücklich ist auch sein Werk. Es sind manche Laufmeter Bücher, die da zusammengefunden haben; hinzu kommen all die verstreuten Vortragsmanuskripte, Essays und Interviews, allesamt ureigene Gedanken- und Sprachsteinbrüche. Wer vermag dies alles noch zu überblicken? Man darf darum wohl festhalten: Der Hüne lebt aus der Fülle. Eben ist eines seiner längeren, berüchtigten Interviews erschienen, in denen Sloterdijk die Kunst der Ab- und Ausschweifung zelebriert. Gegeben hat er es den beiden umtriebigen Studenten Lucius Maltzan und Simon Nehrer. Es geht darin um die Römer und die frühe Neuzeit, um Goethe, Napoleon, Schumpeter und Adorno (um nur einige Namen zu nennen), das ganze Gespräch wird jedoch von einer grossen Klammerfrage zusammengehalten: Zeitgenosse, wie hältst du’s eigentlich mit deinem Staat? Unwohlsein mit dem Wohlstand 2020 war für die Bürger liberaler Demokratien in der Tat so etwas wie das Jahr des Offenbarungseids, noch nie hat der Staat nach dem Zweiten Weltkrieg in deren Leben und Freiheit so massiv und tief eingegriffen wie im Jahr eins der Corona-Pandemie. Ist er dabei der grosse Problemlöser oder vielmehr der grosse Problemschaffer, der dies bloss geschickt kaschiert? Die Frage nach zeitgenössischer Staatlichkeit ist in der Tat ein Leitmotiv, das sich durch Sloterdijks jüngere Publikationen zieht. Im dritten Band seiner «Sphären»-Trilogie beschreibt er – von liberalen Staatsskeptikern bis heute kaum rezipiert – die Paradoxien des Lebens im mitteleuropäischen Wohlfahrts- und Wohlfühlstaat mit grosser Präzision und feiner Ironie. Der Mensch, das verwöhnte Tier, werde von dem de facto existierenden historisch beispiellosen Reichtum zutiefst irritiert. Eine neue Industrie von «Mangelanwälten» erfindet «Mangeloptiken», um die eigene Situation einer Gesellschaft im Überfluss in eine solche der Armut und der Not umzudeuten. Die «Übungen des professionalisierten Klagens» in Soziologie und Politik werden zur zweiten Natur des verwöhnten Wohlstandsbürgers, der etwas auf sich hält. Sloterdijk fasst diese neue Dynamik in einen seiner wunderbaren Aphorismen: «Die Schere zwischen statistischem Wohlstand und gefühltem Unkomfort klafft so weit auf wie kaum je zuvor, auch wo keine linksradikalen Filter die Befunde nachdunkeln.» Diesen modernen Wohlfahrtsstaat nennt Sloterdijk – in Abgrenzung von der gewohnten Rede von Vater Staat – den «quasitotalen Allomutterstaat des 20. Jahrhunderts». Dieser befiehlt und diktiert nicht, sondern umsorgt und pflegt. Die Bürger werden wie Kinder behandelt, die alles umsonst bekommen und dadurch mental abhängig werden von der allgebenden Verwöhnungsinstanz. Wobei auch hier paradoxe Dynamiken spielen: Je mehr die Kinder-Bürger umsorgt werden, desto mehr Umsorgung fordern sie – und desto ungerechter fühlen sie sich zugleich behandelt. Je mehr Inklusion sich dieser Staat auf die Fahne schreibt, desto mehr verwöhnte Kinder-Bürger klagen an, ausgeschlossen zu sein. Und je mehr er sie betreut und therapiert, desto kranker kommen sie sich vor. Die neue verwöhnte Gesellschaft ist so reizbar und leicht zu kränken wie wohl keine zuvor. Der kapitalistische Semisozialismus Eine Pointe geht dabei gerne vergessen: Die umverteilende Verwöhnungsagentur finanziert sich über harsche Zwangsabgaben, die sie den an Anzahl und Kraft schwindenden steuerfähigen Bürgern auferlegt. Die kleptokratische Tendenz der grossen Allomutter wird durch das Heer von Mangelanwälten bloss erfolgreich verschleiert, aber nicht beseitigt. Sloterdijk bringt dieses andere Gesicht des modernen Versorgungsstaates wiederum in eigener Diktion auf den Punkt – er spricht in seinem Werk «Die nehmende Hand und die gebende Seite» vom «massenmedial animierten, steuerstaatlich zugreifenden Semisozialismus auf eigentumswirtschaftlicher Grundlage». Beschrieben ist damit die neue kollektivistische Staatsform der Gegenwart – dabei handelt es sich bei Fiskalquoten von um die 50 Prozent, anders als es die Zerrbilder in Politik und Massenmedien vermitteln, nicht um ein kapitalistisches, eher schon um ein softsozialistisches System. Das «soft» darf allerdings nicht täuschen – denn wer einfordert, befiehlt. Hier nun knüpft Sloterdijk in seinem neuesten Grossinterview an. Der zeitgenössische mitteleuropäische Staat, der sich durch Überbesteuerung, Überschuldung und Überregulierung auszeichnet, hat nach ihm im Corona-Jahr sein wahres Antlitz gezeigt – den seit Jahrzehnten herrschenden Primat der Politik über Ökonomie und Unternehmertum. Dieser Primat wird zwar in der veröffentlichten Meinung weiterhin wegdiskutiert, nur wirkt die offizielle Erzählung zunehmend unglaubwürdig. Dabei ist klar: Wer über die Hälfte des Erwirtschafteten gebietet, gibt auch sonst im Leben den Ton an – und wenn eben Anreize und Empfehlungen nicht mehr taugen, dann müssen es Befehle richten, die mit Gesetzeskraft ausgestattet sind. Sloterdijk, der unerschrockene Aphoristiker, bringt die Verhältnisse wiederum auf einen neuen Begriff: «Auch bei uns herrschen zur Stunde semidiktatoriale Verhältnisse, die offenlegen, was die Soziologen nicht und die Politiker schon gar nicht hören möchten: Unser System entspricht seit längerem einem okkultierten Semisozialismus.» Der Aufstand des Mittelstands Nach Sloterdijk leben wir im Westen längst in einer «neofeudalen Gesellschaftsform, die sich als Kapitalismus maskiert, in der Sache jedoch ein Semisozialismus mit Tendenz zum Dreiviertelsozialismus ist». Oben hat sich eine neue Aristokratie breitgemacht, die aus staatlich geduldeten, quasimonopolistischen Halbunternehmern, führenden Managern staatsnaher Betriebe und höheren Staatsbediensteten besteht; unten lebt eine umsorgte Klientel Staatsabhängiger, die längst von einem leistungslosen Grundeinkommen profitieren, auch wenn es nicht so genannt wird; und dazwischen schuftet eine unternehmerisch erzogene Mittelklasse, die schwindende Gruppe der Nettosteuerzahler, die ohne alle Privilegien auskommt und die ihre Werte, Hoffnungen und Lebensträume gerade schwinden sieht. Sie trägt die Hauptlast der Corona-bedingten Massnahmen – und ist nach Sloterdijk angesichts «eines Staates im Verordnungsrausch» bisher erstaunlich fügsam geblieben. Aber natürlich platziert Sloterdijk mitten im Interview einen explosiven Satz, der an seine 50-50-Prozent-These anschliesst: «Ich möchte die Vermutung wagen, dass Gesellschaften, in denen mehr als fünfzig Prozent aller Äusserungen auf der Basis von Heuchelei gesprochen werden, mittelfristig zum Untergang verurteilt sind.» Steht uns also das Ausbluten oder gar der Aufstand des Mittelstands bevor? Sloterdijk hat zweifellos recht: Die Leute lassen viel mit sich anstellen, wenn sie verängstigt sind, sie lassen sich ausbeuten und zwingen – aber ein Lügengebäude über den tatsächlichen Verhältnissen ebendieser Ausbeutung wird früher oder später zusammenkrachen. Bleibt die Frage: Was heisst im oben zitierten Satz «mittelfristig»? Ungeachtet all der wunderbaren Anspielungen, Ausschweifungen und Aphorismen bleibt uns der Denker aus Karlsruhe diese Präzisierung schuldig – wohl mit gutem Grund.