Die europäische Migrationspolitik besteht zu 30 Prozent aus Humanität - der Rest ist Eigennutz und Heuchelei Eric Gujer 02.10.2020 NZZ Deutschland zeigt sich grosszügig, wenn die anderen EU-Staaten wegschauen. Für die EU ist der deutsche Alleingang in der Migrationspolitik bequem. Berlin muss lernen, einmal laut und deutlich Nein zu sagen. Eric Gujer 45 Kommentare 02.10.2020, 05.30 Uhr Minderjährige Migranten aus dem abgebrannten griechischen Lager Moria nach der Landung in Hannover. Imago Eric Gujer, Chefredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung». Die Aufnahme von 1550 Flüchtlingen aus dem griechischen Lager Moria ist ein humanitärer Akt in der Tradition christlicher Nächstenliebe. Er entzieht sich so weit jeder Kritik. Wer die Diskussion jedoch an diesem Punkt abbricht und nicht die Folgewirkungen der Entscheidung bedenkt, macht es sich zu einfach. Politik erschöpft sich nicht in Moral, sondern bedeutet immer auch, die nationalen Interessen zu vertreten. Deutschland geht mit der Aufnahme der Schutzsuchenden einmal mehr einen migrationspolitischen Sonderweg. Die anderen EU-Staaten nehmen aus dem niedergebrannten Lager keine Personen auf oder deutlich weniger als Deutschland. Dabei hatte sich die Bundesregierung vorgenommen, solche Alleingänge zu unterlassen. Zu heftig waren in der EU die Konflikte, welche die deutsche «Willkommenskultur» im Herbst 2015 ausgelöst hatte, als dass sich dies noch einmal wiederholen sollte. *Der gute Deutsche soll es richten* Nun also schon wieder. Berlin war auch im letzten Jahr ziemlich einsam, als es die italienische Regierung wegen ihres Umgangs mit Bootsflüchtlingen attackierte. Die anderen Europäer sahen es nicht ungern, dass der damalige Innenminister Matteo Salvini ihnen die Drecksarbeit abnahm. Was sie nicht daran hinderte, die Nase über den Rechtspopulisten zu rümpfen. Die europäische Migrationspolitik besteht zu dreissig Prozent aus Humanität. Der Rest ist Eigennutz und Heuchelei. Alleingänge haben immer einen Preis – entweder Auseinandersetzungen oder aber das Gegenteil: Die Partner gehen davon aus, dass die Bundesregierung schon einspringen wird, und lehnen sich bequem zurück. Wer früher einmal Angst hatte vor dem hässlichen Deutschen, verlässt sich heute auf den guten Deutschen. Die Wirtschaftswissenschaft hat dieses Verhalten «moral hazard» (moralisches Risiko) getauft. Jemand bleibt untätig, weil er kalkuliert, dass ein anderer das Problem für ihn lösen wird. Das beste Beispiel dafür sind die Börsen und die Notenbanken in der Finanzkrise, nach der Euro-Krise und jetzt angesichts der Pandemie. Die Währungshüter pumpen unvorstellbar viel Geld in die Märkte, und die Aktien steigen auf immer neue Höchststände. Die Anleger wissen, dass die Notenbanken das Risiko der jeweiligen Krise tragen. In der Migrationspolitik ist Deutschland die Europäische Zentralbank. Die anderen Staaten hoffen, dass Berlin die Auswirkungen der dysfunktionalen europäischen Politik abfedert. *Seehofer kritisiert den «Moralweltmeister»* Innenminister Horst Seehofer räumte selbst offenherzig ein, dass die Partner das moralische Risiko auf Deutschland abwälzten. Sie machen im Ministerrat in Brüssel ein ums andere Mal deutlich, dass sie ihre nationalen Interessen höher veranschlagen als die Humanität. Seehofer sagte gegenüber der «Bild am Sonntag»: «Viele unserer Nachbarn sagen mir: Warum sollen wir uns beteiligen, wenn die Deutschen immer wieder als Moralweltmeister auftreten und uns damit unter Druck setzen? Da kann man ihnen schwer widersprechen. Wir sollten nicht als Vormund Europas auftreten, sondern als Partner.» Folgen für die Politik der Bundesregierung hatte die Einsicht des Innenministers nicht. Seehofer, einst der schärfste Kritiker der Kanzlerin, ist heute ihr treuer Paladin. Die CSU war schon immer eine sehr dialektisch veranlagte Partei. Getrieben von einem Teil der Öffentlichkeit, der eine möglichst grosszügige Aufnahme von Flüchtlingen und Armutsmigranten fordert, ist Berlin offenkundig ausserstande, ein eigenes nationales Interesse zu formulieren. Und damit bleibt alles beim Alten: Jeder Alleingang zementiert den «moral hazard». *Feste Quoten bleiben chancenlos* Die EU-Kommissions-Präsidentin kündigte vollmundig, wie dies ihre Art ist, einen Pakt für eine neue europäische Migrationspolitik an. Ursula von der Leyen war schon in Berlin ein Phänomen, sie ist es auch in Brüssel. Niemand kann auf Knopfdruck so viel Enthusiasmus versprühen wie sie. Die Realität sieht um einiges prosaischer aus. Auch Brüssel weiss nur zu gut, dass die EU-Staaten den Anreiz zur Flucht oder zur Migration nach Europa nicht durch eine grosszügige Politik fördern wollen. Zwar soll das sogenannte Dublin-Verfahren modifiziert werden, wonach der EU-Staat verantwortlich ist, in dem ein Asylbewerber europäischen Boden betritt. Dies ist, wie eigentlich niemand bestreitet, unsolidarisch gegenüber den Hauptbetroffenen, Griechenland und Italien. Ein verpflichtender Verteilschlüssel, der jedem Mitgliedsland eine feste Quote nach Grösse und Wirtschaftskraft zuweist, ist allerdings chancenlos. Der Kompromissvorschlag der Kommission sieht daher ein kompliziertes mehrstufiges Verfahren vor. Im Normalfall gibt es keine Quoten. Erst wenn sich ein Mittelmeerstaat überfordert fühlt und Brüssel um Hilfe bittet, kommt ein Verteilschlüssel zur Anwendung. Allerdings können sich die Mitgliedsstaaten auch freikaufen, indem sie im gleichen Umfang abgelehnte Asylbewerber abschieben. Das System ist so kompliziert, wie es sich anhört. Die Zustimmung der EU-Mitgliedsländer ist daher nicht sehr wahrscheinlich. *Auf grosse Pläne folgt stets die prosaische Realität* Selbst wenn sich die Staaten darauf einlassen, dürfte der komplexe Pakt in der Praxis scheitern. In der Vergangenheit hat der Brüsseler Zentralismus immer neue Ideen ausgebrütet: Einmal sollte die Grenzbehörde Frontex massiv ausgebaut werden, um die Asylverfahren zu beschleunigen. Ein anderes Mal sollten Aufnahmezentren an den EU-Aussengrenzen den Zustrom der Zufluchtsuchenden kanalisieren. Die Realität aber ist Moria, dieser Schandfleck der europäischen Migrationspolitik. Dort mussten zu viele Menschen auf zu wenig Raum viel zu lange warten, bis ihre Anträge bearbeitet wurden. Der Brand machte dem ein Ende. Das Elend aber wiederholt sich, da alle EU-Pläne für eine Beschleunigung und eine Verbesserung bisher versandet sind. Was also bleibt? Der «moral hazard» der deutschen Moral. Der Teufelskreis aus deutscher Hochherzigkeit und europäischer Gleichgültigkeit würde am ehesten dann durchbrochen, wenn Berlin wenigstens einmal laut und deutlich Nein riefe und nicht als Retter in der Not fungierte, wenn die anderen wegschauen. Wenn es nicht mehr als migrationspolitische Zentralbank auftreten und sämtliche Risiken abfedern würde. Daher geht auch der Verweis auf die in den letzten Jahren deutlich zurückgegangene Zahl der Asylanträge in Deutschland in die falsche Richtung. Es sind noch immer genug, damit die anderen EU-Staaten ihr Spiel fortsetzen können. Der schwarze Peter landet zuverlässig in der Bundesrepublik. *Die Südländer profitieren vom Rechtsbruch* Angela Merkel ist zu einem Stoppsignal nicht bereit. Sie wird ihren Amtskollegen im EU-Rat nie erklären, dass Deutschland genug habe. Sie wird nie Margaret Thatcher nacheifern, die in Brüssel so lange insistierte, bis der britische Beitrag an das EU-Budget sank. Das ist der Preis dafür, dass die Deutschen Merkel ein viertes Mal wählten. Ob der nächste Kanzler dazu in der Lage ist? Ob er die nötige Standfestigkeit hat, um die unvermeidliche Kritik im Inland wie im Ausland auszuhalten? Sollten die Grünen – die Multikultipartei schlechthin – je einer von der CDU geführten Regierung angehören, sind solche Spekulationen ohnehin müssig. Die anderen Europäer müssen sich keine Sorgen machen. Der österreichische Kanzler Sebastian Kurz kann weiterhin den migrationspolitischen Hardliner geben. Er weiss, dass Deutschland bereitsteht, um die Kollateralschäden seiner markigen Auftritte zu mildern. Die Griechen und die Italiener können weiterhin Asylbewerber in Richtung Norden ziehen lassen in der sicheren Erwartung, dass Deutschland sie aufnimmt. Wenn Asylbewerber aus dem Land der Erstaufnahme in ein anderes Land weiterreisen, obwohl die Dublin-Regeln dies eigentlich verbieten, nennt sich der Rechtsbruch euphemistisch Sekundärmigration. Diese zu beenden oder wenigstens zu reduzieren, ist das wichtigste Anliegen Seehofers in der Diskussion um ein neues europäisches Migrationsrecht. Von allein werden Brüssel und die Mitgliedsländer dieses heisse Eisen allerdings nicht anpacken. Damit es so weit kommt, müsste Deutschland einmal laut und deutlich Nein sagen.
45 Kommentare Maximilian Degner vor etwa 5 Stunden 38 Empfehlungen @NZZ: Danke, dass man in Eurer Zeitung auch noch sachliche Analysen zu dem Thema findet! Das ist leider im deutschsprachigen Raum nicht mehr so selbstverständlich... 38 Empfehlungen Brigitte Miller vor etwa 3 Stunden 28 Empfehlungen Dieses deutliche Nein würde möglicherweise auch eine Auswirkung auf die Migration haben, denn es sind ja nur zu einem kleinen Teil Flüchtlinge im eigentlichen Sinn. Dazu kommt die Rolle der Medien,die noch immer von "Mädchen" und "Kindern" sprechen, obwohl es sich zum grossen Teil um jungen Männer handelt. Auch das Unwesen der Schlepper und der NGo's , die sich als perfekte Schleppergehilfen betätigen, wäre zu stoppen. All dies wirkt als Pull-Faktor. Aber wie lange denn noch? Ist es nicht genug, dass die Integration jener, die schon hier sind , nicht richtig gelingt und diese mit immer neu hinzu Kommenden zunehmend Parallelgesellschaften bilden ? Siehe deutsche und schwedische Städte. 28 Empfehlungen