Pastorin Angela und das Wir-Gefühl Marc Felix Serrao 30.09.2020 NZZ In ihrer Rede zum nächsten Bundeshaushalt hat Kanzlerin Angela Merkel die Deutschen in eindringlichen Worten aufgefordert, die Corona-Regeln einzuhalten. Ein emotionaler Ausbruch? Im Gegenteil. Marc Felix Serrao, Berlin 26 Kommentare 30.09.2020, 21.35 Uhr «Das spüre ich selbst»: Angela Merkel am Mittwoch im Bundestag. Markus Schreiber / AP Eigentlich ging es an diesem Mittwoch in Berlin um den deutschen Bundeshaushalt fürs nächste Jahr. Doch wenn von der langen Debatte eines die Berichterstattung dominieren wird, dann ist das weniger der Stolz der Regierungsparteien auf ihre Corona-Politik, die Sorge der Grünen ums Klima, diejenige der FDP um die Wirtschaft oder die der Linkspartei um den Sozialstaat. Es ist der Gemütszustand der Kanzlerin. Merkel sei zu Beginn ihres 16. und letzten Amtsjahrs «gewaltig besorgt», heisst es in einer ersten Einordnung. Sie greife zu ihrem «vielleicht letzten Mittel», weiss ein zweiter Kommentator. Sie erteile dem Land eine «letzte Mahnung», heisst es anderswo. Die Kanzlerin wird all das mit Genugtuung lesen. Wir. Immer wieder wir. Dieses Personalpronomen setzte Angela Merkel am laufenden Band ein. Sie meinte damit nicht nur sich selbst und die Zuhörer im Plenarsaal, sondern alle Menschen im Land. «Wir erleben», sagte Merkel. Oder: «Wir lernen.» Und besonders häufig: «Wir müssen», zum Beispiel reden, «im Familienkreis, im Freundeskreis, mit Kolleginnen und Kollegen, in den Kitas, in den Schulen, in den Alten- und Pflegeheimen, in der Nachbarschaft, in den Kirchengemeinden, im Fussballverein oder im Chor». Und weil reden allein nicht reicht, muss das deutsche Wir auch «erklären» und «vermitteln», mit Worten, «die möglichst viele erreichen». Was auf allen Kanälen und bei jeder Gelegenheit beredet, erklärt und vermittelt werden soll, ist der regelkonforme Umgang mit der Corona-Pandemie. Denn auch in Deutschland steigt die Zahl der Neuinfektionen, und die Kanzlerin hatte schon tags zuvor erklärt, dass eine fortgesetzte monatliche Verdopplung dieser Zahl bis Jahresende fast 20 000 Neuinfektionen pro Tag bedeuten könnte. Für diese «Modellrechnung» hat sie ebenfalls Applaus erhalten, was möglicherweise daran liegt, dass Journalisten gerne Fächer studieren, in denen sie nicht rechnen müssen, und entsprechend beeindruckt sind, wenn jemand mit dem Faktor 2 multiplizieren kann. «Das spüre ich selbst» Das von der Kanzlerin beschworene Wir-Gefühl dürfte nun ebenfalls Eindruck machen. Die Deutsche Presse-Agentur behauptete in einer ersten Meldung, dass Merkels Rede «zutiefst emotional» gewesen sei. Ein Fernsehmoderator fand sie sogar «zutiefst ungewöhnlich». Das war insofern zutreffend, als die Kanzlerin im Parlament selbst gesagt hatte, dass sie angesichts der Pandemie nicht nach der üblichen Routine verfahren könne. Und, gewiss, man darf ihr abnehmen, dass sie mit der Lage hadert. Alle sehnten sich nach Nähe und Berührungen, sagte Merkel: «Das spüre ich selbst.» Allerdings war dieses Eingeständnis wohl weniger das Ergebnis eines emotionalen Ausbruchs, sondern Ausdruck davon, wie gut diese Kanzlerin ihre Landsleute im Allgemeinen und die veröffentlichte Meinung des Landes im Besondern kennt. Das Finale ihrer Rede war schliesslich kein bisschen neu. Im Gegenteil, Merkel hat sich schon einmal sehr ähnlich ausgedrückt, Mitte März. Damals hielt sie ihre erste Corona-Ansprache, und sie appellierte genauso eindringlich an das deutsche Wir wie jetzt wieder. «Niemand ist verzichtbar», hörte man sie sagen. «Alle zählen.» Die Resonanz war überragend. Der pastoral-pädagogische Tonfall ist nicht das «letzte Mittel» dieser Kanzlerin. Er ist inzwischen ihre erste Wahl.