Der demokratische Staat, dein Feind und Helfer
Josef Joffe
01.01.2021
NZZ
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Die Covid-Diktatur ist ein Hirngespinst. Die echte Gefahr ist der gute
Leviathan, der seit Jahrzehnten mit unserem Einverständnis wächst und
wuchert. Wer hat’s gemerkt?
Teilnehmer an einer Veranstaltung zu Ehren jener, die in China gegen
Covid-19 kämpfen, in der Grossen Halle des Volkers in Beijing am 8.
September 2020.
Mark Schiefelbein / AP
Als Corona die Welt zu erobern begann, meldeten sich alsgleich die
Instant-Kassandren: Finis Demokratie! Die Gier nach
Sicherheit-über-alles würde die Herrschenden ermächtigen, den liberalen
Staat zu killen. Das Virus würde erst den Menschen, dann die Freiheit
meucheln. Gruselig, aber grotesk. Flankiert von den Alu-Hüten und
Verschwörungsspezialisten, haben die Schnelldenker den falschen Schurken
ins Visier genommen: den Tyrannen im weissen Kittel.
Staat und Statistiker würden sich zur «Medico-» oder «Securitokratie»
vereinen, die genauso autoritär sei wie China. Solche Schnellschüsse
haben nicht einmal die Zielscheibe getroffen, geschweige denn ins
Schwarze. Richtig ist nur, dass die westliche Welt unterm Lockdown
ächzt, derweil die Wirtschaft 2020 um sechs Prozent abstürzte. Doch hat
Covid den liberalen Staat weder infiziert noch demoliert.
Die Seuche ist eine Katastrophe, aber die eigentliche Krise der
Demokratie läuft seit Jahrzehnten fast unerkannt im Hintergrund ab. Der
echte Schuldige ist nicht Covid, sondern das angebliche Opfer: der
demokratische Staat. Wie das? Er wächst und wuchert und beschädigt sich
selber, indem er den freien Bürger einschnürt, ihm Autonomie und
Selbstverantwortung abnimmt. Diese Langzeitkrise hat mit Covid so viel
zu tun wie ein Thermometer mit der Ursache des Fiebers.
Falsche und echte Tyrannen
Zuerst die rosige Diagnose: Das Immunsystem funktioniert. Nehmen wir den
Lieblingsschurken der Intellektuellen, Donald Trump. Der hat im
Corona-Jahr jeden Trick versucht, um Wählerverdikt sowie Gewaltenteilung
auszuhebeln und Amerika in einen Caudillo-Staat zu verwandeln. Er hat
sich dennoch den Gerichten gefügt, seine Getreuen nicht in den
Strassenkampf geschickt. Am 20. Januar ist er Geschichte.
In Jerusalem hat der Machtmensch Benjamin Netanyahu mithilfe von
Covid-19 alle Winkelzüge ausprobiert, unterwirft sich aber der Judikatur
sowie den Neuwahlen im März. Emmanuel Macron, Angela Merkel, Giuseppe
Conte? Sie haben ihre rechtlichen Möglichkeiten in der Seuche weiter
ausgeschöpft, herrschen aber nicht per Dekret, geschweige denn per
Ermächtigungsgesetz. Adolf lebt hier nicht mehr.
Als Volkstribun hat Boris Johnson das Wahlvolk vorweg mit seiner
Inkompetenz beeindruckt; Lenin hätte bloss ein höhnisches Grinsen übrig
gehabt. Nein, die neuen Schurken, die gern als Boten des Unheils
aufgefahren werden, sind in Wahrheit die alten: Xi, Putin, Orban,
Erdogan, Kaczynski. Die haben ihre Völker lange vor Covid-19 in den
totalitären Griff genommen.
Die Seuche war allenfalls ein frischer Tupfer auf deren despotische
Grundierung. Solche Demokratie-Killer brauchen keine Fallzahlen, um
Ausgangs- und Demonstrationsverbote durchzusetzen. Die Wurzeln der
Tyrannei in China und Russland gehen Jahrhunderte zurück. Die
Unterwerfung in Ungarn und Polen läuft seit einem Jahrzehnt. Die
Drittweltdiktaturen schafften es ebenfalls ohne Covid-19.
Die wohlwollende Volkspädagogik
Nun zu den Bad News. Die Bedrohung des liberalen Staates, die René Scheu
in dieser Zeitung beschrieben hat
,
kommt nicht auf Panzerketten, sondern auf weichen Pfoten daher – im
Gewande staatlicher Für- und Vorsorge. Die Veranstaltung entfaltet sich
nicht in Fackelmärschen wie 1933 in Deutschland, die Instrumente sind
nicht Pressezensur und Selbstermächtigung, NKWD oder Gestapo.
Nicht der böse, sondern der gute Staat ist das Problem. Terror ist out,
Volkspädagogik in. Die Parole der Regierenden: Um den unheimlichen Feind
zu stoppen, müsst ihr Bürger brav und einsichtig sein. Wir wollen nur
euer Bestes, aber ihr müsst die Verantwortung an uns übertragen. So wird
der Staat laut Scheu zum «Vormund» und der Bürger zum «Mündel». Das
Verführerische an solchem Paternalismus ist die scheinbare
Selbstlosigkeit. Der demokratische Staat tut es für uns, nicht für sich.
Leider ist das Problem viel älter als Covid-19, das mit Milliarden
Impfstoff-Dosen – Pfizer/Biontech sei Dank – eingedämmt, ja bezwungen
werden wird. Die Bedrohung des liberalen – begrenzten – Staates wurzelt
tiefer und geht weiter zurück als die Pandemie von 2020/21, wie die
üblichen Verdächtigen raunen. Die Händler der Angst können die Zukunft
ebenso wenig voraussehen wie die Epidemiologen, die heute so und morgen
so plaudern, um in der Aufmerksamkeits-Ökonomie vor der Kamera zu
bleiben. Seit Jesajas Zeiten macht das Menetekel mehr her als die
Morgenröte.
Zum Vergleich: 1900 und 2020
Wie weit geht denn das Ur-Problem zurück? Nehmen wir als Benchmark 1900,
den holprigen Aufbruch in das demokratische Zeitalter. Zart war damals
das Pflänzchen; es gab etwa ein Dutzend Demokratien, vornehmlich im
angelsächsischen Raum. Der gute Staat war noch ein Zwerg. Setzen wir als
Messlatte die Staatsquote an: wie viel die Regenten einnehmen und
ausgeben, womit sie die Loyalität der Wähler erkaufen und den
Verwaltungsapparat aufpäppeln, der per Autopilot steuert und verfügt.
Um 1900 kassierte der amerikanische Staat (Bund, Länder, Gemeinden) 8
Prozent, 2020 waren es über 40, also 500 Prozent mehr. Grossbritannien:
von 12 auf 36 Prozent. Deutschland: von 20 auf 45 Prozent. Nicht erst
seit Covid-19 fliessen Billionen an Liquidität und «Helikoptergeld»; das
Füllhorn ergiesst sich seit dem Finanzdesaster von 2008. In Deutschland
wird die Staatsquote 2021 auf knapp 54 Prozent der Wirtschaftsleistung
anschwellen.
Allein die Sozialausgaben – Transfers – sind im Westen in den
vergangenen 120 Jahren von ein paar Prozent steil hochgeschnellt. In
Frankreich beträgt die Sozialquote ein Drittel des BIP, in Deutschland
liegt sie bei mehr als einem Viertel. Selbst in der Schweiz, in der
ehemaligen Bastion des Freisinns, lag sie 2018 bei 26 Prozent. In
England und Amerika lag sie einst bei knapp über null, heute beträgt sie
20 plus Prozent – 10-bzw. 36-mal mehr als am Anfang des
20. Jahrhunderts. Märchenhaft wächst der gute Staat zwischen Toronto und
Tokio, Andalusien und Amerika.
Das sind die dürren Zahlen. Der moderne Wohlfahrtsstaat nimmt und gibt –
auch sich selber. Und alles für einen hehren Zweck – von der
Verteidigung bis zur «sozialen Gerechtigkeit». Warum meckern? Weil Geld
bekanntlich die Welt regiert. Wer zahlt, schafft an – und nicht unter
der Knute der Obrigkeit, sondern mit dem willigen Ja des Wahlvolks. Wir
nehmen für uns, aber geben gleichzeitig dem Staat, der mit jeder
Milliarde Muskeln und Speck anlegt. Je mehr Verteilung, desto mehr
Verwaltung, was die anschwellenden Heerscharen der Bürokratie erklärt.
Selbst in der angeblich staatsskeptischen Schweiz wächst der Anteil der
Staatsdiener schneller als jener der Beschäftigten in der Privatwirtschaft.
Der Staat, der (teure) Problemlöser
/Honi soit qui mal y pense. /Man muss dem demokratischen Staat nicht
unbedingt Machtgier unterstellen. Die Bevölkerung wächst, die Städte
verdichten sich, die Menschen rücken sich immer mehr auf die Pelle.
Folglich muss der Staat regulieren und adjudizieren sowie Schulen,
Strassen, Gerichte bauen. Die Macht expandiert mit dem Apparat.
Weiter: Je mehr die Gesellschaft in subnationale «Identitäten» je nach
Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft und weltlichem Glauben zerfällt, desto
mehr Konflikte. Hier greift der Staat als Schiedsrichter, Gönner oder
Zwangsvollstrecker ein und verschafft sich so noch mehr Gewicht.
Sodann: Er verteilt «Sozialvalium», um Klassen und Kontrahenten zu
besänftigen. Er nimmt von Peter, um Paul zu geben – oder beiden mit
unweigerlich steigenden Schulden wie heuer die Covid-19-Billionen
zeigen. Ruhe ist die erste Herrscherpflicht, um den alten Fritz umzudrehen.
Schliesslich: Der Bürger ist nicht dumm, sondern rational. Er
organisiert sich in Tausenden von muskulösen Interessenverbänden, die
mehr für die Ihren aus dem Füllhorn absaugen. Abermals wächst dem
Verteiler Macht zu.
Unter dem Einfluss von Hegel regiert im deutschen Denken die Vorstellung
vom selbstlosen Staat, der Sittlichkeit und Vernunft verkörpere. Der
reale Staat hat aber seit biblischen Zeiten seine eigenen Interessen. Je
mehr er kassiert und reguliert, desto fester wird sein Monopol im
politischen Markt. Auch der Staat im grauen Anzug lenkt Ressourcen in
die eigenen und die Taschen favorisierter Gruppen, um sich deren Treue
zu sichern. Die Staatsklasse strebt nach Status, Aufstieg und Einkommen
– und der Staat gibt nicht zurück. Der Apparat wächst.
Die Ausnahmen von diesem «eisernen Gesetz» sind mit der Lupe zu zählen.
Im letzten Kriegsjahr (1945) kassierte der US-Staat 52 Prozent des BIP.
Drei Jahre später waren es 20. Aber aufgepasst: Seitdem steigt die
US-Kurve stetig an. Heute liegt die Staatsquote bei 44 Prozent – neun
Punkte mehr als vor Sars-CoV-2. Gewiss ein Sondereffekt, aber der ändert
nichts an der gnadenlosen Progression seit 1900, als die US-Quote bei 8
Prozent anfing. Gleiches gilt für den Rest des Westens.
Der dominante Staatsreflex
Die Moral von der Geschicht? Zitieren wir eine berühmte amerikanische
Comic-Figur namens Pogo, einen Dachs, den die Waldtiere als Kundschafter
ausschickten. Bei der Rückkehr meldet er: «Ich habe den Feind gesehen,
und er ist wir.» Covid-19 ist bloss ein höllisches Drama, das vergehen
wird. Doch der schleichende «Lockdown» des liberalen, begrenzten Staates
begann zirka 1900, als die Demokratie noch ein Kleinkind war. Die freien
Bürger sind die Komplizen des freundlichen Leviathans.
Wir lieben den Vor- und Fürsorgestaat nicht, sind aber wie Junkies, die
nach einem immer stärkeren Fix greifen. Die Entstaatlichung von
Wirtschaft und Gesellschaft – sprich: Selbstverlass, Eigenverantwortung
– war vorgestern (Thatcher, Reagan) und gestern (Blair, Clinton,
Schröder halblinks). Heute herrscht eine links-rechte Koalition des
Etatismus; wir haben den «Staatsreflex verinnerlicht» (Scheu).
Covid-19 hat den Trend nicht ausgelöst, sondern nur beschleunigt. Und
das Joch scheuert nicht. Warum sich dann wehren gegen die Herrschaft des
Guten?
Der Bürger fordert die nächste Wohltat, und der Staat gibt. Seine
Rendite ist die Macht. Sie liegt weit über den Null-Schuldzinsen, die er
sich selber geschenkt hat. So entfällt im Vergleich zu 1900 der letzte
Klotz am Bein des guten Souveräns, der sich bedient, indem er uns dient.
Bloss: Wer merkt’s?
*Josef Joffe* ist Mitherausgeber der «Zeit» und Distinguished Fellow der
Hoover Institution an der Stanford University.
Adrian Rechsteiner
vor etwa 20 Stunden
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Ein Ursache für die hohe Staatsquote sehe ich in der Bildung. Immer mehr
Junge "müssen" ans Gymi. Beim anschliessenden Uni-Studium reicht dann
die Grütze für etwas naturwissenschaftliches nicht aus und man macht's
sich in den Geistes- und Sozialwissenschaften bequem. Doch die
Privatwirtschaft kann mit solchen Abschlüssen nicht viel anfangen, so
landen diese Leute beim Staat und schauen dann, dass auf jedem
Armee-Flyer eine Frau und ein Farbiger drauf sind. Meiner Meinung nach
sollte die Bildung spezifischer nach wirtschaftlichen Nutzen vom Staat
subventioniert werden. Denn ein Ingenieur betreibt Wertschöpfung, irgend
eine Akademikerin, die sich mit der sexistischen Wortendung "er" wie bei
Eim-er, beschäftigt, nervt nur.
36 Empfehlungen
H. H.
vor etwa 15 Stunden
19 Empfehlungen
Ich finde es sehr problematisch, Orban und Kaczynski in den gleichen
Topf mit Putin, Erdogan und Xi zu werfen. Sicher führen die beiden die
autoritäre Zwischenkriegstradition von Horthy und Pilsudsky teilweise
weiter. Sie fälschen aber keine Wahlen, stecken die politischen Gegner
nicht ins Gefängnis, bringen sie nicht um und führen auch keine
Umerziehungslager. Ungarn und Polen als totalitäre Systeme zu
bezeichnen, ist übertrieben. Wer alles in einen Topf wirft, sagt am
Schluss nichts aus.