Die neue Kulturrevolution der Wohlmeinenden ist in Europa angekommen: Wo soll das alles enden? Josef Joffe 08.03.2021 NZZ Strassen werden umbenannt, Statuen gestürzt, Bücher aus dem Sortiment verbannt, Menschen sozial kaltgestellt. Die Revolution der neuen Erleuchteten hat eben erst begonnen. Und ja, es ist tatsächlich eine Revolution. Revolutionen beginnen mit hehren Motiven, am Ende bleiben oft nur Trümmer zurück. (Stalins Stiefel im Szoborpark in Budapest) Imago In Charles Dickens’ «Tale of Two Cities» strickt Madame Defarge kurz vor der Französischen Revolution einen Schal. Er «wird täglich länger und enthält die Namen jener, die von den Revolutionären umgebracht werden sollten». Monsieur D. graut es, sie solle aufhören. Kalt pariert sie: «Befehle das doch dem Wind und Feuer, nicht mir!» Und: «Es hört nie auf. Es frisst sich immer weiter.» Das ist das Wesen aller Revolutionen. Sie beginnen mit den hehrsten Werten: Liberté, Égalité, Fraternité, den «Menschen- und Bürgerrechten» von 1789. Diese verankerten Unveräusserliches wie Freiheit, Eigentum und Widerstand gegen Willkür. Sodann Gleichheit vor dem Gesetz, Unschuldsvermutung, Meinungs- und Glaubensfreiheit. Die Logik der Säuberung Leider verschied das Ideal in der /Grande Terreur,/ die laut Robespierre ein «Ausfluss der Tugend» sei. Die Tugenddiktatur kerkerte Hunderttausende ein und frass Zehntausende, auch die eigenen Kinder: Danton, Saint-Just, schliesslich Robespierre. Dass sich Revolutionen radikalisieren, ist ein eisernes Gesetz. Dabei hatte Robespierre als unbeugsamer Liberaler begonnen. Hellsichtig sagte er gegenüber seinen Jakobinern 1792 warnend: «Die schönste Revolution verkommt zum schändlichen System von Machiavellismus und Heuchelei.» Dagegen sei der Konvent der «Boulevard der Freiheit». Tatsächlich führte der Konvent in die Tyrannei. Denn, so Robespierre: Das Volk wolle zwar das Gute, «sieht es aber nicht immer und ist leicht irrezuführen». Folglich müsse die jakobinische Avantgarde die /volonté générale/ verkörpern. Stete «Säuberung» müsse das Böse ausmerzen, die Meinung lenken und die Pressefreiheit beschneiden, die Robespierre zuvor zelebriert hatte. Nun hiess es: «Ächtung der perfiden, konterrevolutionären Schreiberlinge und Verbreitung des korrekten Schriftguts.» Sittlichkeit erfordere Zwang. Worte für die Ewigkeit, auch 200 Jahre später. Das Gleichdenk in China und den USA Wie eh und je flankierte die Kulturrevolution die politische. In den Müll mit den alten Begriffen! Die Woche hatte nun zehn Tage, diese zehn Stunden. Primi statt Montag, Brumaire statt November. 1789 war das Jahr eins der neuen Zeitrechnung. Die Absicht lag auf der Hand: Wir setzen die Ausdrücke und formieren so das Denken. Weg mit christlichen Bezügen, den Begriffen der alten Machthaber. George Orwells Neusprech klingt so wie ein Plagiat. Wer Kopf und Sprache beherrscht, besetzt die «Kommandohöhen des Staates», um einen berühmten Lenin-Spruch abzuwandeln. Dazu mussten Mao Zedong und die Roten Garden der «Grossen Proletarischen Kulturrevolution» nicht in Antonio Gramscis «Gefängnisheften» stöbern, wo er die kulturelle Hegemonie als Sprungbrett zur Staatsmacht definierte. Es gehe um die «Seelen der Menschen», um ihre «Weltanschauung», verkündete die «Rote Fahne» 1967. Selbst Maos Widersacher Liu, den Pragmatikern zugerechnet, gab den Robespierre: «Die Volksmassen sind rückständig und müssen von der Partei geführt werden.» Mao forderte ihre «sozialistische Erziehung», also Gleichdenk. Es war wie jede Revolution nicht ein Aufstand der Massen, sondern der Intelligenzia, die sich zuerst in den Universitäten formierte. Erziehung gehört zu den ersten «Kommandohöhen», die zu erstürmen sind. Chinas Lehrer wurden gefoltert, in den Selbstmord getrieben. Die Glücklichen kamen mit geschorenem Kopf davon. Es war wie immer kein Klassen-, sondern ein Elitenkampf: eine Parteiclique gegen die andere, die jungen Studenten gegen die Absolventen von gestern. Gnadenlos verfolgten die Garden die etablierten Akademiker. Die Revolte mündete in der ungezügelten Radikalisierung. Von 1966 bis 1976 wurden in China Millionen Menschen umgebracht. Gnädigerweise geht es an US-Institutionen im Vergleich recht zivil zu. Wenn Leute, die «woke» sind (aufgewacht, erleuchtet), Gutdenk verfügen – zielen sie auf den sozialen, nicht auf den physischen Tod. Es werden Lehrer, Journalisten und Autoren des Falschdenk bezichtigt und gecancelt oder gefeuert. Heute werden im Westen Strassen umbenannt, Statuen gestürzt, Bücher aus dem Sortiment von Verlagen verbannt. In China wurden Denkmäler «dekonstruiert», Kulturstätten geschändet, kostbare alte Bücher verbrannt. Die zwei Arten des Todes Es geht stets um die Macht, die im Mäntelchen des Gutdenk daherkommt. Wer hat, wer bekommt sie und kommt an die Tröge der Privilegien? Der existenzielle Unterschied zu 1789 und 1966 ist der zwischen physischer und moralischer Grausamkeit. Die physische – Tortur, Terror, Tod – tobte in Paris und Peking. Die moralische ist nicht nackte Gewalt, sondern laut der Harvard-Philosophin Judith Shklar, die vor den Nazis floh, ebenfalls ein /summum malum – /die «systematische Erniedrigung, so dass die Opfer irgendwann weder sich noch anderen trauen können». Ihnen drohe die moralische Vernichtung. Der Feind der Freiheit seien «Machtmissbrauch und Einschüchterung» durch «Staats- und Gesellschaftsmacht». Der Frevel ist das Sein (heute: «Whiteness»), nicht das Tun; schon das Falschdenk ist Verrat. Der Sühne gehen zwingend Selbstanklage und -erniedrigung voraus – heute wie in den Schauprozessen unter Stalin, Hitler und Mao. Bloss regiert nunmehr nicht das Fallbeil, sondern die seelische Exekution. Geht der Delinquent tief genug in die Knie, behält er vielleicht seinen Job. Wenn nicht, gerät er in den Cancel-Kerker oder aufs moralische Schafott, das Würde und Existenz beseitigt. Ganz ohne ordentlichen Prozess; die Anklage ist schon Beweis – wie vor dem «Wohlfahrtsausschuss» oder den Tribunalen der Kulturrevolution. «Black Lives Matter» ist korrekt, «All Lives Matter» kaschierter Rassismus. Gemäss dem eisernen Gesetz radikalisiert sich auch die unblutige Revolution, und sie spiegelt Sigmund Freuds Einsicht in die unaufhaltsame Ausweitung der Wahnvorstellungen. In der Fallstudie «Der kleine Hans» hat der Patient zunächst Angst vor einem weissen Pferd, dann vor einem schwarzen. Dann vor Gäulen mit Riemen ums Maul und solchen, die Stell- und Möbelwagen ziehen. Schliesslich fürchtet Hans /alle /Pferde, grosse Tiere überhaupt. Die Phobie expandiert. Hans will nicht mehr auf die Strasse. Doch vergebens, denn ein Pferd werde in sein Zimmer eindringen. Ebenso läuft es in der Revolution. Zu Beginn, beim Sturm auf die Bastille, ging es um konkrete Übel und edelste Grundsätze – schliesslich wird die Schuld grenzenlos, was für alle Erhebungen gilt. In Amerika fuhr die Bürgerrechtsrevolution der sechziger Jahre die besten Traditionen der Nation gegen den Rassenwahn auf. Warum war «life, liberty and the pursuit of happiness» nur Weissen gegeben, warum durften Schwarze nicht wählen, in «White only»-Restaurants sitzen? Mittlerweile ist Weisssein in den USA zur Erbsünde geworden – nur wer «woke» genug ist, erhält Absolution. Die neue Urschuld Es hilft nicht, dass ein schwarzer Präsident gleich zweimal gewählt wurde. Dass 84 Prozent aller weissen Amerikaner Ehen zwischen Schwarz und Weiss gutheissen, statt weiland nur 4. Dass ein Dutzend Bürgerrechtsgesetze verabschiedet worden sind, Gleichstellung Staatsräson ist. Die Schlachtrufe sind nun «systemischer Rassismus», «unbewusstes Vorurteil», «Mikroaggression» – buchstäblich unfassbare Tatbestände à la chinoise. Das prinzipielle Problem: Wenn das Böse «strukturell» ist, hilft nur die Abrissbirne. Wenn Entwürdigung unbewusst ist, müssen 236 Millionen weisse Amerikaner in die Gehirnwäsche. Mikroaggression bedeutet universelle Sprachkontrolle. Hinter der Radikalisierung lauert eine totalitäre Dystopie. Wenn Rassismus unausrottbar ist, müssen die demokratischen Mechanismen logischerweise versagen: Wahlen, Koalitionen, Kompromisse. Wenn «Whiteness» die Urschuld ist, gibt es keine Erlösung. Denn Weisse können ihre Hautfarbe ebenso wenig wechseln wie Schwarze. Es bleibt die zwanghafte Ausweitung der Sündhaftigkeit in Gegenwart und Vergangenheit. Washington und Jefferson hatten Sklaven, raus aus dem Pantheon! Mathematik ist Pythagoras und Euklid, also «weiss»; ergo verteilt das Bildungsressort von Oregon eine 80-seitige Anleitung, die den «Rassismus im Mathematikunterricht beseitigen» soll, dazu die «weisse Oberherrschaft» über Zahlen und Zeichen. Die Kids lernen nicht, dass dunkelhäutige Inder die Null sowie das Dezimalsystem erfunden haben, dass wir Arabern die Algebra und den Algorithmus verdanken. So gerät das Obsessive zum Absurden, das Logik und Unterscheidung zerlegt. Ein groteskes Beispiel ist eine Ikone der englischen Literatur, Jane Austen (1775–1817). An der Autorin von «Stolz und Vorurteil» klebt nun der Verdacht. Sie habe, so das Austen-Museum, Zucker, Tee und Baumwolle geschätzt – Produkte des britischen Imperialismus. Also schuldig, weil das Schleckermaul dergestalt im Sklavenhandel verstrickt war. Das wäre nicht einmal Robespierre eingefallen; der hat aus Asien bloss das Dezimalsystem geklaut. Eine logische Falle tut sich auf. Wenn alles Rassismus ist, dann ist nichts Rassismus. Wie soll das enden? Die Jakobiner wurden von Napoleon, die Kulturrevolutionäre letztlich von der chinesischen Armee entmachtet. Heute mag eine literarische Vorlage weiterhelfen: Joseph Hellers Bestseller «Catch-22», eine bittere Satire über den Zweiten Weltkrieg. In einer US-Air-Force-Basis in Sizilien grassiert plötzlich die Angst vor dem Kommunismus. Die moralisch-patriotische Aufrüstung beginnt mit einem einzigen Treuegelöbnis bei der Materialausgabe. Dann die unaufhaltsame Flut: an der Kasse, beim Friseur, in der Kantine – erst am Eingang, dann bei jeder Beilage bis hin zum Salzfass. Je mehr Eide einer schwur, desto höher sein Tugendpegel. Bis der ergrimmte Major de Coverley, eine Art Gottesgestalt, am Tresen losbrüllt: «Gib mir was zu fressen, allen was zu fressen!» Das war das Ende der «Glorious Loyalty Oath Campaign». Irgendwann kollabiert das Absurde unter seinem ausufernden Gewicht. Allerdings ist der Westen etwas grösser als ein fiktiver Luftwaffenstützpunkt. Und Deutungshoheit ist die Trumpfkarte – der Garant politischer Vorherrschaft. *Josef Joffe* lehrt Politik und Ideengeschichte an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies in Washington. Die hier zitierte Judith Shklar brachte ihm in Harvard politische Philosophie bei.