Identitätspolitik: Meinen Gefühlen sind deine Fakten Wurst Anna Schneider 17.09.2020 NZZ Biologische Geschlechter existieren nicht, nur Weisse können Rassisten sein, und Sprache ist voller Gewalt: Solche Thesen werden inzwischen so ernst genommen, dass sogar satirische Kunstfiguren real wirken. Im August 1963 hielt Martin Luther King vor dem Lincoln Memorial in Washington DC seine berühmte «I have a dream»-Rede. Eine der darin enthaltenen Kernaussagen, dass Menschen nach ihrem Charakter, nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilt werden sollten, gilt für «Social justice»-Kämpfer nicht mehr. Tom Brenner / Reuters Amerika hat ein Anti-Rassismus-Problem. So sieht es jedenfalls Präsident Donald Trump. Kurzerhand wies er Anfang September die amerikanischen Bundesbehörden an, künftig keine Anti-Rassismus-Trainings mehr anzubieten. Die Empörung ist gross, aber das ist sie immer, sobald sich der mächtigste Mann der Welt zu Wort meldet. Was diesmal anders ist: Liberale Intellektuelle pflichten Trump in seiner Entscheidung bei. Und dafür haben sie gute Gründe. In der gegenwärtigen Debatte um Rassismus werden in den USA, aber auch anderswo pauschale, gerne auch wissenschaftlich verbrämte Behauptungen verbreitet. Thesen wie jene der Bestsellerautorin Robin DiAngelo («White Fragility»), dass alle Weissen qua Hautfarbe Rassisten seien, gewannen im Zuge der «Black Lives Matter»-Bewegung neuen Auftrieb. Dasselbe gilt für Ibram X. Kendis Buch «How to be an Antiracist». Es gebe keine nichtrassistische oder rassisch neutrale politische Massnahme, schreibt Kendi. Das einzige Heilmittel gegen rassistische Diskriminierung sei antirassistische Diskriminierung. Der Rassismus der Antirassisten Nun will Donald Trump dem Verbreiten dieser vermeintlichen Wahrheiten durch Behörden entgegentreten. Es gehe um Kurse, so liest man im Memorandum des Weissen Hauses, die sich um «weisse Privilegien» drehten oder suggerierten, die USA seien «von Natur aus ein rassistisches oder schlechtes Land». Und natürlich geht es auch um Kurse, die den Teilnehmern vermitteln, Menschen seien schon allein wegen ihrer Hautfarbe Rassisten. Diese Lehren, die der «Critical Race Theory» entstammen, sind – unter anderem – auch Gegenstand des neuesten Buches der Wissenschafter Helen Pluckrose und James Lindsay. Die beiden Autoren fragen sich darin, wie es so weit habe kommen können, dass sich alles nur mehr um Hautfarbe, Geschlecht und Identität drehe. Und sie erklären, wie eine an Universitäten geborene Idee derartige Wirkung entfalten konnte unter den Schlagworten «wokeness» (Wachheit) und «social justice» (soziale Gerechtigkeit). Bereits vor zwei Jahren entlarvten Pluckrose und Lindsay die Mechanismen dieser dogmatischen Studien. Zusammen mit Peter Boghossian reichten sie eine ganze Reihe von frei erfundenen Artikeln bei Fachjournalen ein, vor allem im Bereich der kulturwissenschaftlichen Geschlechter- und Identitätsforschung. Damit wollten sie beweisen, dass sich diese Forschungsfelder inzwischen von objektiv-wissenschaftlichen Ansprüchen verabschiedet haben. Mit Erfolg: Einige dieser Fake-Artikel wurden tatsächlich in renommierten Journalen veröffentlicht. Einer enthielt nicht ausgewiesene Passagen aus Hitlers «Mein Kampf», der Titel lautete «Unser Kampf ist mein Kampf». Im identitätspolitisch-feministischen Kampf scheint alles erlaubt; der Streich, inzwischen bekannt als «Grievance Studies Affair», war gelungen. Der Lerneffekt an den Universitäten und in der Öffentlichkeit war allerdings überschaubar; vielmehr haben sich die aktivistischen Tendenzen an den Universitäten und in den Medien noch verstärkt. Von universitären Sprachspielereien zum Aktivismus «Haben Sie gehört, dass Sprache, Gewalt und Wissenschaft sexistisch sind? Haben Sie gehört, dass bestimmte Menschen nicht Yoga praktizieren oder chinesisches Essen kochen dürfen? Oder wurde Ihnen gesagt, fett zu sein, sei gesund, oder dass so etwas wie das biologische Geschlecht nicht existiere oder dass nur weisse Menschen Rassisten sein könnten?» Mit diesen Fragen, die Lindsay und Pluckrose an den Leser richten, wird die Kernbotschaft des Buches klar: Mit Wissenschaft und Vernunft hat das alles nur noch sehr bedingt zu tun. So begründen die beiden auch ihre Folgerung, dass mit dem Phänomen «social justice» eine neue, postmoderne Religion geboren sei. Deren Wahrheit ist zwar subjektiv, aber absolut. Widerspruch und Nonkonformität sind demnach sinnlos, weil Häresie. Der Ursprung dessen, was heute als universitärer Aktivismus bezeichnet werden kann, wurzelt laut den Autoren in den Ideen der Postmoderne. Diese unter anderem von Michel Foucault, Jacques Derrida und Jean-François Lyotard entwickelte Theorie wurde im Englischen ursprünglich bloss als «Theory» bezeichnet und fusste auf radikalem Skeptizismus gegenüber objektiver Wahrheit, auf der Vorstellung von Objektivität als sozialem Konstrukt sowie von Wissen und Macht als Form von Herrschaft. Diese Ansätze aus den 1960er Jahren waren nicht praxisorientiert; zumindest nicht bis in die 2010er Jahre. Dann begann das, was die Autoren «angewandten Postmodernismus» nennen: Die Ideologie der «social justice» erreichte die Politik. Linke und zum Teil auch bürgerliche Parteien begannen, sich an ihren Vorgaben zu orientieren, mit Forderungen nach gendergerechter Sprache, Quoten und Diversity-Programmen. Die neue Liebe zur Diversität ist indes eine oberflächliche: Was zählt, ist die Verschiedenheit äusserer Merkmale, nicht die Verschiedenheit der Gedanken. So wurde aus «Theory» «Postcolonial Theory», «Queer Theory», «Critical Race Theory», «Gender Studies», «Fat Studies» und vieles mehr. All diesen Theorien ist gemeinsam, dass sie die Welt aus der Sicht der vermeintlich Unterdrückten, also der Opfer, betrachten. Subjektives Empfinden ist wichtiger als die Suche nach objektiver Wahrheit. Zusammenfassend sprechen Lindsay und Pluckrose daher von den «Grievance Studies» – zu Deutsch etwa Beschwerde- oder Quengelstudien. Diese Opfermentalität wurde durch Kimberlé Crenshaws Theorie der Intersektionalität schliesslich auf die Spitze getrieben: Eine Person, so Crenshaw, kann Opfer unterschiedlichster Diskriminierungen werden. Beispielsweise, weil sie eine Frau /und /schwarz ist. Auf diese Weise lassen sich beliebig viele und immer weitere Opferkategorien erstellen. Da es nur auf die Gefühle des Einzelnen ankommt, ist es irrelevant, ob diese identitätsfixierte Behauptung argumentativ haltbar ist; Kritik wird mit dem Vorwurf des Rassismus, der Misogynie oder der Transphobie begegnet und damit abgewürgt. Andrew Doyles Schöpfung: Titania McGrath. Auftritt von Titania McGrath Jemand, der sich mit Intersektionalität ganz besonders gut auskennt, ist Titania McGrath. Sie ist eine von dem Autor Andrew Doyle erschaffene Kunstfigur, die den typischen «social justice warrior» verkörpern und veräppeln soll: immens privilegiert, überzeugtes Opfer, politisch so korrekt, dass sie selbst Polizeipferde unter Rassismusverdacht stellt. Weil es grösstenteils unmöglich ist, mit «social justice»-Kämpfern, vor allem in den sozialen Netzwerken, zu diskutieren, ist die andere Variante: darüber zu lachen. In Titania McGraths Namen legt Doyle nun ein neues Buch vor: «My First Little Book of Intersectional Activism» heisst das Werk, das sich an angehende Aktivisten im Alter zwischen sechs Monaten und sechs Jahren richtet. Es sei deswegen ein Kinderbuch geworden, sagte Doyle in einem Interview, weil es einen neuen Trend gebe: politische Kinderbücher. So sind auf dem englischsprachigen Markt sehr ernst gemeinte Werke erschienen mit Titeln wie «Antiracist Baby» von Ibram X. Kendi oder «Feminist Baby» von Loryn Brantz. Das Anliegen der Autoren ist es, schon Kleinkinder dazu anzuhalten, sich mit ihrem vermeintlichen Rassismus auseinanderzusetzen. Das fusst wiederum auf der Annahme, die gesamte Gesellschaft sei inhärent rassistisch, was behauptet wird, ohne dafür Argumente vorzubringen. Doyle alias Titania McGrath persifliert derartige Werke nach dem Motto «Meine Gefühle sind nicht an deinen Fakten interessiert». Dabei präsentiert er den Heranwachsenden allerlei Rollenmodelle, von Greta Thunberg bis Josef «passionate about social justice» Stalin. Letzterer, schreibt Titania McGrath, habe immerhin das Patriarchat bekämpft. Seine Gulags könne man auch als «safe spaces» betrachten, in denen man lerne, was «social justice» bedeute. Und dass viele im Kommunismus jung gestorben seien, sei angesichts der Tatsache, dass sie weisse Privilegien genossen hätten, ein geringer Preis. Das Tragikomische an Doyles Experiment ist, dass es für viele Leute gar nicht mehr als Satire erkennbar ist, weil sich an Universitäten, in den Medien und den sozialen Netzwerken bereits derart viele Titania McGraths tummeln. Nicht umsonst stand Titania McGraths erstes Buch «Woke – A Guide to Social Justice» in einer kalifornischen Buchhandlung direkt neben Ibram X. Kendis Werk «How to be an Antiracist» – bis die Inhaber bemerkten, dass es sich bei «Woke» nicht um das Werk eines realen Autors handelte. Die mentalen Verrenkungen, die notwendig sind, um die Logik der «wokeness» zu verstehen, machen aber eigentlich überdeutlich, womit man es zu tun hat: Nonsens. The biggest threat to diversity are those who do not share my exact opinions. — Titania McGrath (@TitaniaMcGrath) September 11, 2020 Doyles Kunstfigur stösst nicht nur auf Gegenliebe. Zwar hat ihr Account auf Twitter bereits mehr als eine halbe Million Follower, er wurde aber auch schon ein paar Mal temporär gesperrt: Sie habe Hate-Speech betrieben. Daher hat Doyle dem Twitter-CEO Jack Dorsey auch ein eigenes Kapitel in Titania McGraths neuem Buch gewidmet. Denn Jack «stay woke» Dorsey macht schliesslich aus der Sicht von Titania McGrath alles richtig. Über Identitätspolitik lacht man nicht, und falls doch, muss man das mittels Zensur ändern. Ob man sich dem Phänomen «wokeness» und «social justice» nun sachlich oder mit Humor nähert, die Erkenntnis ist dieselbe: Was im Namen dieser Schlagworte betrieben wird, hat wenig mit Aufklärung, Wahrheitssuche und Wissenschaft zu tun. Wo diese Reise hingehen soll, erfährt man bei Titania McGrath schon auf Seite zwei: «So paradox es scheinen mag», schreibt die Kunstfigur, «um voranzukommen, müssen wir zurück zu der Zeit, bevor unsere Kultur mit Demokratie, Meinungsfreiheit und Fakten infiziert wurde.» Mehr ist dazu nicht zu sagen.