Überschätzte Wissenschaft? «Experten machen Politik, statt zu beraten – so geht das nicht» Yannick Nock, Caspar Hirschi 22.03.2021 NZZ NZZ Wie anfällig sind wir für Krisen? Der Historiker Caspar Hirschi spricht in «NZZ Standpunkte» über eine orientierungslose Gesellschaft, Fehler in der Corona-Bekämpfung – und er kritisiert Wissenschafter, die zu Aktivisten werden. Von Yannick Nock Es scheint, als werde die Welt immer instabiler: Finanzkrise, Schuldenkrise, Klimakrise – und obendrein die Pandemie. Gerät die Welt gerade aus den Fugen, oder liegen die Gründe für die Krisenhysterie woanders? «Wir erleben in der Pandemie tatsächlich eine Situation, wie sie diese Generation noch nie gesehen hat», sagt der Schweizer Historiker Caspar Hirschi. Doch: Sonst würde die Krisendiagnostik weit über das Ziel hinausschiessen. In der jüngsten Ausgabe von «NZZ Standpunkte» mit dem NZZ-Chefredaktor Eric Gujer erklärt Hirschi zudem, welche Fehler die Wissenschaft gemacht hat, weshalb die Politik wehrlos auf die nächste Krise wartet – und er sagt, warum die Weltordnung derzeit jener von vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs gleicht. Die Pandemie sei eigentlich ein banales Problem, nur könnten wir nicht mehr richtig damit umgehen. «Erstaunlich ist, dass die Spanische Grippe vor hundert Jahren viel verheerender war.» Sie habe auch jüngere Menschen getroffen und deutlich mehr Menschen ins Grab gebracht. Im gesellschaftlichen Gedächtnis sei sie aber fast spurlos vorbeigegangen, sagt der Historiker. Ganz im Gegensatz zum Coronavirus. Pandemie und Seuchen wie beispielsweise Cholera seien früher einfach Teil der Realität gewesen. Hirschi, der an der Universität St. Gallen (HSG) lehrt, sieht eine Ursache in einem falschen Verständnis von Normalität. Der Standard dafür sei jüngst zu hoch angesetzt worden. Nach dem Zerfall des Ostblocks hätte der Westen an einen Siegeszug der liberalen Demokratie geglaubt, der immer weiterginge. Das war falsch. Die vergangenen Jahre hätten gezeigt, dass Staaten mit anderen Wertvorstellungen mit der Pandemie und weiteren Krisen besser zurechtkämen. «Das kränkt uns.» «Eine Situation wie vor dem Ersten Weltkrieg» Das permanente Krisengefühl entspringt laut Hirschi aus einer Orientierungslosigkeit: «Es fehlt eine leitende Idee. Die Gesellschaft weiss nicht, wohin sie will.» Wir hätten keine Vorstellung davon, wie die Zukunft aussehen solle. Statt gestaltend in die Geschichte einzugreifen, befänden wir uns in einem permanenten Verteidigungsmodus. «Wir warten nur darauf, bis die nächste Krise zubeisst.» Auch auf politischer Ebene gäbe es viele Unsicherheiten: Der Westen habe noch in den neunziger Jahren gedacht, dass die USA auf Jahrzehnte hinaus den Gang der Politik und der Weltwirtschaft bestimmen würde. «Das hat sich sehr schnell gedreht.» Heute gäbe es verschiedene Schwergewichte: USA, China, Indien, die EU, Russland. «Wir haben eine Situation wie vor dem Ersten Weltkrieg», sagt Hirschi. Es herrsche eine grosse Rivalität – und es sei nicht klar, wer künftig als Hegemon die Weltgeschichte dominiere. In der Sendung diskutieren Hirschi und Gujer aber auch über die Rolle der Wissenschaft in Krisenzeiten, insbesondere darüber, wie offensiv sich die Mitglieder der Covid-19-Task-Force positioniert haben, was letztlich in einer Maulkorb-Debatte endete. Wo hört die Wissenschaft auf – und wo beginnt der Aktivismus? Dass Wissenschafter nun selbst in die politische Arena drängten, liege auch daran, dass sich andere Akteure fast bedingungslos hinter die Forscher stellten. «Die Rolle des Experten ist aus den Schienen gefallen», sagt Hirschi deswegen. «Sie machen Politik, statt zu beraten – so geht das nicht.» Man wisse nicht mehr, welche Rolle die Experten einnähmen. Sind sie Berater oder Politiker? Zu Beginn der Pandemie hätten sich die Forscher öffentlich politisch engagiert – besonders in den sozialen Netzwerken und den Medien. Danach sei ihnen der Wechsel in ein Beratergremium wie die Task-Force aber schwergefallen. «Gewisse Figuren haben das Gefühl, ihr Spezialwissen sei absolut politikrelevant und sie müssten sich gegen Entscheidungsträger durchsetzen», sagt Hirschi. Auch die Medien würden die Kompetenz der Forscher überzeichnen. Fangfragen der Medien Der Höhepunkt sei eine Pressekonferenz im Dezember gewesen, als Martin Ackermann, Präsident der Task-Force des Bundes, gefragt wurde: «Was würden Sie tun, wenn Sie Politiker wären?» Das sei natürlich eine Fangfrage gewesen, auf die Ackermann nie hätte antworten dürfen. Doch genau das tat er. «Das war dann ein Zeichen dafür, dass die Rollen komplett vertauscht wurden», sagt Hirschi. Danach sei klar gewesen, dass sich etwas ändern müsse. Heute sei die Situation besser, die Rollen wieder schärfer getrennt, sagt Hirschi. Einige Wissenschafter, beispielsweise der Epidemiologe Marcel Salathé, hätten eine steile Lernkurve hingelegt. «Er klingt heute reifer als vor einem Jahr.»