Auch wer die Gesundheit der Bevölkerung schützen will, darf nicht beliebig in die Grundrechte eingreifen Hans-Jürgen Papier 20.10.2020 NZZ Interview von Alexander Kissler Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Hans-Jürgen Papier warnt: «Auch wer die Gesundheit der Bevölkerung schützen will, darf nicht beliebig in die Grundrechte eingreifen» Die Politik muss die Massstäbe ihres Handelns offenlegen, einen naturwissenschaftlichen Automatismus gibt es nicht, das Parlament sollte aus dem Dämmerschlaf erwachen: Papier kritisiert die Schieflagen in der politischen Debatte um das Coronavirus. Alexander Kissler, Berlin 20 Kommentare 20.10.2020, 11.30 Uhr Von 2002 bis 2010 war der Staatsrechtler Hans-Jürgen Papier Präsident des Karlsruher Bundesverfassungsgerichts. In Ihrem neuen Buch «Die Warnung. Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird» schreiben Sie, Herr Papier, dass in einer «lebendigen Demokratie Politik und Rechtsstaat immer wieder auf Kollisionskurs geraten». Erleben wir unter den Bedingungen der Corona-Pandemie eine solche Kollision? Zumindest liegt derzeit eine erhebliche Spannung zwischen Freiheit und Sicherheit vor – wobei ich unter Sicherheit auch die gesundheitliche Sicherheit begreife. Diese Spannungslage erfordert eine politische Abwägungsentscheidung. Aber auch der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismässigkeit muss gewahrt werden. Der Staat darf nicht in der allgemeinen legitimen Absicht, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, jedweden Grundrechtseingriff von beliebiger Schwere vornehmen. Werden die Grundrechte momentan auf unverhältnismässige Weise eingeschränkt? Viele Massnahmen sind unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten völlig in Ordnung, andere wiederum genügen dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit nicht. Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte in den Bundesländern haben bereits spezifische Grundrechtsbeschränkungen, etwa das Beherbergungsverbot, die Sperrstunde oder absolute Versammlungsverbote, wegen ihrer Rigorosität für unverhältnismässig erklärt, teilweise sogar für offensichtlich rechtswidrig. Auch gesellschaftlich ist es umstritten, welche Anti-Corona-Massnahmen angemessen sind und welche nicht. Wir haben in der öffentlichen Diskussion, auch in den Medien, lange Zeit nur extreme Standpunkte vernommen. Entweder wurden alle getroffenen Massnahmen bis hin zum Lockdown gewissermassen mit einem juristischen Persil-Schein versehen, oder man leugnete jede Gefahrenlage. Das nahm teilweise verschwörungstheoretische Züge an. Ich plädiere dafür, zur gedanklichen Mitte zurückzukehren, und sehe mich durch die Gerichtsentscheidungen darin bestätigt. Wie schätzen Sie die Lage ein? Hat die Exekutive ihre Kompetenzen überdehnt? Die Verwaltungsgerichte bescheinigen den Landesbehörden teilweise, dass eine solche exekutive Überdehnung vorlag. Natürlich ist nicht alles, was die Behörden in den letzten Monaten angeordnet haben, verfassungswidrig oder allgemein rechtswidrig. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten ist aber auch nicht alles möglich. Auch wer die Gesundheit und das Leben der Bevölkerung schützen will, darf nicht beliebig in die Grundrechte eingreifen. Nun wird sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Beherbergungsverbot in Schleswig-Holstein beschäftigen, das vom dortigen Oberverwaltungsgericht bestätigt worden war. Dagegen klagt jetzt eine Familie aus Tübingen. Sehen Sie das Beherbergungsverbot ebenfalls kritisch? Ich habe die Verhältnismässigkeit des Beherbergungsverbots von Anfang an infrage gestellt. Jede konkrete Massnahme muss nachweisbar geeignet, erforderlich und angemessen sein, um die Verbreitung des Infektionsgeschehens zu verhindern. Ein solcher Nachweis kann nur durch Tatsachen gelingen. Das Übernachten in Hotels oder der Aufenthalt in Restaurants nach 22 oder 23 Uhr müsste also faktisch dazu beitragen, die Verbreitung der Infektion zu befördern. An diesem Zusammenhang kann man aus guten Gründen zweifeln. Selbst Sperrstunden dürfen demnach nicht ohne weiteres verhängt werden. Nicht ohne tragfähige Rechtfertigung. Sperrstunden sind ein erheblicher Eingriff in die Berufsfreiheit der Gastwirte, aber auch in die allgemeine Handlungsfreiheit der Gäste. Ein legitimer Zweck für eine solche Freiheitseinschränkung ist in pandemischer Lage gewiss gegeben; aber der Zweck heiligt nicht alle Mittel. In den Parteien regt sich Widerstand gegen ein Regieren per Dekret, selbst in den Reihen der CDU. Carsten Linnemann sprach bei «Bild Online» von einer «beunruhigenden Entwicklung». Das Parlament müsse seine Rolle als Gesetzgeber stärker einfordern. Unserer rechtsstaatlichen Demokratie entspricht es, dass alle wesentlichen Entscheidungen zur Ausübung sowie zur Einschränkung der Grundrechte vom Parlament getroffen werden. Nur das Parlament ist durch Wahlen vom Volk hierzu legitimiert; die Exekutive hat sie zu vollziehen, nicht zu ersetzen. Vergessen wir bitte nicht, dass alle Entscheidungen im Zuge der Corona-Krise seit Mitte März politische Abwägungsentscheidungen waren. Es gibt keinen naturwissenschaftlichen Automatismus. Virologie, Medizin, Epidemiologie stellen Prognosen auf, wie sich diese oder jene Massnahme auswirken könnte. Abwägen und entscheiden muss die Politik, in einem demokratischen Rechtsstaat also das Parlament. Stehen beispielsweise die Nachteile einer Schulschliessung in einem angemessenen Verhältnis zum zu erwartenden Nutzen? Diese Entscheidung kann nur die Politik durch ein verfassungsgemässes Werturteil treffen. Dazu fehlen der Naturwissenschaft die Massstäbe. Der Parlamentsvorbehalt ist aber über Monate hinweg vernachlässigt worden. Was ist von einem Parlament zu halten, das gewissermassen zum Jagen getragen werden muss? Ich möchte keine Zensuren verteilen, kann aber feststellen: Ganz überwiegend haben sich die meisten Parlamentarier selbst aus dem Spiel genommen. Ich bedaure das sehr. Schon der Bayrische Verwaltungsgerichtshof hat im April dieses Jahres angemahnt, längerfristige Lockdown-Verfügungen müssten durch das Parlament getroffen werden. Die Politik hat entsprechende Mahnungen weitgehend ignoriert. Auch in den Medien wurde das Problem kaum aufgegriffen. In Krisenzeiten sollte also keineswegs, wie es oft heisst, die Stunde der Exekutive schlagen? Nicht unbedingt. In einer rechtsstaatlichen Demokratie ist das oberste Organ der Staatsleitung nicht die Exekutive, sondern das vom Volk gewählte Parlament. Stattdessen erleben wir den Aufstieg eines neuen Gremiums mit quasi gesetzgeberischer Kompetenz, des regelmässigen Treffens der Bundeskanzlerin mit den Chefs der Landesregierungen. Dort werden neue Anti-Corona-Beschlüsse verkündet. Auch hier besteht eine ganz offenkundige Diskrepanz zwischen der politischen Wirklichkeit und dem Verfassungsrecht. Ein solches Gremium ist in der Verfassung nicht vorgesehen. Mit einem dritten «Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite» sollen die Befugnisse des Bundesgesundheitsministers aus dem Infektionsschutzgesetz verstetigt werden. Dann hätte die Ausnahme kein Ablaufdatum mehr. Der Minister könnte zum Beispiel auf dem Verordnungsweg Reisen beschränken oder Daten von Unternehmen anfordern. Das Infektionsschutzgesetz ist für ein regional sowie personell begrenztes Infektionsgeschehen ausgelegt. Gegen Erkrankte und krankheits- oder ansteckungsverdächtige Personen können so Massnahmen ergriffen werden. Wir haben es aber bei der Corona-Pandemie mit einem viel umfassenderen Geschehen zu tun. Vom Lockdown war die gesamte Bevölkerung betroffen. Betriebe mussten schliessen. Aus Gründen des Gemeinwohls und nicht, weil die Inhaber konkret ansteckungsverdächtig gewesen wären, wurde ihnen dieses Sonderopfer abverlangt. Das Infektionsschutzgesetz ist für solche flächendeckenden Lockdown-Regelungen gar nicht ausgelegt. Im März mag ein solches Vorgehen verständlich gewesen sein, weil ein anderes rechtliches Instrumentarium nicht zur Verfügung stand. Inzwischen sind sieben Monate vergangen, und man hat noch immer kein hinreichendes rechtliches Instrumentarium für epidemische Notlagen von nationalem Ausmass geschaffen. Das ist ein grundlegendes Problem. Fordern Sie ein Pandemiegesetz? Wir brauchten ein Massnahmengesetz für den epidemischen Notstand nationalen Ausmasses. Den regionalen Besonderheiten könnte man Rechnung tragen durch Öffnungsklauseln für die Exekutive in den jeweiligen Ländern. Ich bin ein Anhänger des Föderalismus, aber ein solches Massnahmengesetz des Bundes muss es geben dürfen. Laut Grundgesetz besitzt der Bund für Massnahmen gegen übertragbare Krankheiten das Recht zur sogenannten konkurrierenden Gesetzgebung. Der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, kann sich eine virologische Lage vorstellen, die das Abriegeln ganzer Ortschaften erforderlich machte. Wäre ein solch drakonischer Eingriff in die Freiheitsrechte vom Grundgesetz gedeckt? Eine Ausgangssperre im strengen Sinne erachte ich als schlechthin unverhältnismässig. Ob bei einer noch weiteren Zunahme der Gefährdungslage ein solch drastischer Eingriff in die Bewegungsfreiheit ein geeignetes, erforderliches und vor allem angemessenes Mittel wäre, um das Infektionsgeschehen erheblich einzudämmen, müsste sehr genau geprüft werden. Solche schwierigen Abwägungsfragen könnten nur aufgrund belegbarer Tatsachen entschieden werden. Der Gesetzgeber müsste auf jeden Fall die Massstäbe seines Handelns offenlegen. Tut er das nicht? Die Risikogebiete werden nach bestimmten Zahlen festgelegt – ob es 35 oder 50 Fälle an Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in den letzten sieben Tagen gegeben habe. Wer aber hat diese Zahlen festgelegt? Das sind politische Zahlen, zum Teil ausgerichtet auf die Kapazitäten der Gesundheitsämter. Da frage ich mich: Sind die Kapazitäten überall gleich, so dass man für das ganze Bundesgebiet dieselben Grenzen anwendet und daran die Freiheitsbeschränkungen knüpft? Müsste man nicht vorrangig bestrebt sein, die Kapazitäten der Gesundheitsämter zu erhöhen, um die Infektionsketten zurückzuverfolgen? Das Bundesverfassungsgericht hat beispielsweise in anderen Zusammenhängen immer geurteilt, man könne eine Versammlung nicht nur deshalb verbieten, weil die zur Verfügung stehenden Polizeikräfte gewalttätiger Gegenproteste nicht Herr würden; dann müssen die Behörden eben die Polizeikapazitäten erhöhen. Ähnlich verhält es sich hier. Ein formales Zahlenverhältnis von 35 oder 50 pro 100 000 reicht jedenfalls allein nicht, um schwerwiegende Grundrechtseinschränkungen zu begründen. Aber stehen Politik, Medien und Öffentlichkeit nicht im Bann hoher Zustimmungswerte? Was soll falsch sein an Anti-Corona-Massnahmen mit exekutivem Überschwang, wenn diese Massnahmen vom weit überwiegenden Teil der Bevölkerung begrüsst werden? Die Freiheitsrechte sind auch für jene Menschen gedacht, die nicht zur Gruppe des Mainstreams gehören. Ich wende mich entschieden gegen Verschwörungstheoretiker, die die Gefahren durch Covid-19 leugnen oder bagatellisieren und alle staatlichen Massnahmen der vergangenen Monate für verfassungswidrig halten. Aber es bleibt dabei: Freiheitsrechte sind in besonderer Weise Rechte von Minderheiten. Verfassungsrechtliche Aspekte müssten in jedem Fall viel stärker als bisher berücksichtigt werden. Es kann nicht sein, dass nur medizinisch-virologische und statistische, nicht aber auch verfassungsrechtliche Argumente berücksichtigt werden. Das verfassungsrechtlich legitime Anliegen, die Gesundheit und das Leben der Bevölkerung zu schützen, berechtigt nicht zu Freiheitseinschränkungen jedweder Art. Zur Person Hans-Jürgen Papier – ehemaliger Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier wurde 1943 in Berlin geboren. Er ist ein deutscher Staatsrechtler. Von April 2002 bis zu seinem Ausscheiden am 16. März 2010 war er Präsident des Bundesverfassungsgerichts, des obersten Gerichts in Deutschland. Er ist seit 1998 Mitglied der CSU. Er lehrte unter anderem an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU). Nach seinem Ausscheiden aus dem Bundesverfassungsgericht griff Papier immer wieder in politische Debatten ein. So kritisierte er den Umgang der deutschen Regierung mit der Vorratsdatenspeicherung und fiel zuletzt durch Äusserungen zu den Corona-Massnahmen in Deutschland auf.