Fakten gecheckt – Diskussion vertagt Johannes Odendahl 17.10.2020 NZZ «Faktencheck» ist in Mode, das ist zu begrüssen. Die Methode hat aber auch ihre Tücken: Bei der Prüfung von Einzelaussagen darf der grössere Meinungskontext nicht verloren gehen. Denn das Ganze des Gesagten erschliesst sich nicht immer bloss aus der Summe seiner Einzelteile. Das Textformat des Faktenchecks hat in den letzten Jahren eine beachtliche Karriere gemacht. Der Faktencheck gilt als scharfe Waffe im Kampf um Aufklärung und Rationalität, gerade in Zeiten überbordender Fehlinformationen, irreführender Behauptungen und kruder Verschwörungstheorien, wie sie in sozialen Netzwerken massenhaft verbreitet und oft genug unbesehen geglaubt werden. Vor diesem Hintergrund ist es überaus verdienstvoll, öffentlich vorgebrachte Aussagen durch gewissenhafte Recherchen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Die Faktenchecker (jedenfalls die seriösen der Zunft) erfüllen gewissermassen eine wichtige diskurshygienische Funktion, indem sie auf Lügen und Halbwahrheiten aufmerksam machen und so deren ungehinderte Verbreitung erschweren, zumindest aber deren Bekämpfung erleichtern. Das ist zu begrüssen. Dennoch haben auch Faktenchecks ihre Tücken; und zwar selbst dann, wenn sie sich ganz auf dem Boden evidenzbasierter Tatsachen bewegen. Ihr Format bringt es mit sich, dass sie stets lauter Richtiges sagen und dennoch manchmal in der Summe falsch liegen. Im Zweifel für die redliche Absicht Aus der jahrhundertealten Tradition der Textauslegung (von Schriften, Reden, literarischen Texten) kennt man das Prinzip der /hermeneutischen Billigkeit/. Gemeint ist damit eine Haltung des Auslegenden dem Autor oder der Autorin gegenüber: Von diesen wird so lange wie irgend möglich angenommen, dass sie redliche Absichten verfolgten und etwas Sinnvolles, vielleicht Wertvolles äussern wollten. Einzelne Unklarheiten und Unstimmigkeiten werden dann mit Blick auf den Kontext möglichst aufgeklärt; das vielleicht krude Detail erhellt sich aus dem Ganzen eines übergeordneten Aussageanliegens. Hermeneutische Billigkeit heisst, dem Sprecher, der Autorin einen weitreichenden Vertrauensvorschuss zu geben. Wie sieht es in dieser Hinsicht mit dem Textformat des Faktenchecks aus? Erstens stellt sich die Frage: Wer wird gecheckt, und wer sind die Checker? Mit ihren Aussagen auf den Prüfstand der Faktenchecker zu geraten, ist für die betroffene Person fraglos unangenehm. Sie muss sich vor einem Tribunal verantworten, das seinerseits die Deutungshoheit ebenso wie das letzte Wort beansprucht – schliesslich haben die Fakten gesprochen. Wer in die Mangel des Faktenchecks genommen wird, dessen Prestige ist gefährdet, ja oft genug nachhaltig beschädigt. Und umgekehrt: Wer über ein hohes diskursives Prestige verfügt, wird keinen Faktenchecks unterworfen. Corona-Relativierer unter den Medizinern müssen durch den Faktencheck, Christian Drosten eher nicht. Zweitens zu den «Fakten» selber: Faktencheck suggeriert, dass Behauptungen, Argumente und Belege stets mit einer unbezweifelbaren Faktenlage abgeglichen werden könnten. Dass dies nicht einmal für eine so vergleichsweise harte Wissenschaft wie die evidenzbasierte Medizin gilt, davon kann sich auch der Laie leicht ein Bild machen. Speziell bei seriöseren Faktenchecks zu medizinischen Themen wird er bald auf widersprüchliche Befunde und zum Teil erbitterte fachinterne Auseinandersetzungen über deren Deutung stossen. Sachlagen sind oft derart komplex, dass sich Fakten nicht einfach so checken lassen wie die Bremsen eines PKW. Drittens: Was auseinandergenommen wird, wirkt dann auch zerfleddert. Das Prinzip des hermeneutischen Zirkels besagt, dass ich zum Verständnis der Einzelaussage stets den grösseren Äusserungskontext berücksichtige und umgekehrt aus den Details das übergeordnete Aussageanliegen abzuleiten versuche. Kennzeichnend für den Faktencheck hingegen ist die Isolation der Einzelaussage, die dann jeweils auf Herz und Nieren geprüft wird. Das im grösseren Zusammenhang Gesagte wird, Behauptung für Behauptung, klinisch untersucht. Auf diese Weise wird man dem übergreifenden Anliegen der Sprecherin oder des Verfassers aber kaum gerecht. Oft lassen sich auch Expertinnen und Experten zu überspitzten Aussagen hinreissen oder greifen zur Untermauerung ihrer Aussagen zu mangelhaft recherchierten Belegen; gelegentlich behaupten sie Dinge, die schlichtweg falsch sind. Umso wichtiger ist es, ihre Aussagen kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls zu korrigieren. Das Prinzip der hermeneutischen Billigkeit besagt aber, bei alledem das generelle Anliegen der Sprecherin oder des Sprechers im Auge zu behalten, denn dieses gilt es zu verstehen. Gut zuzuhören, heisst hier nicht nur, kritisch zu sein, sondern auch, so lange wie irgend möglich den Aussagen des Gegenübers insgesamt Plausibilität zu unterstellen. Die zerstückelnde Methode des Faktenchecks hingegen neigt dazu, den Blick auf den Äusserungszusammenhang auszublenden. Suggeriert wird, dass das Ganze des Gesagten sich aus der Summe seiner Einzelteile ergebe. Der Faktencheck urteilt portionsweise – «falsch» / «teilweise richtig» / «nicht belegt» / «grossenteils falsch». Der Eindruck bei den Lesern ist desolat: So bleibt das Gesagte zerpflückt und zerfleddert zurück – und zugleich häufig ein wichtiges Anliegen auf der Strecke. Fakten sind nicht Haltungen Viertens schliesslich: Fakten ersetzen keine Haltungen. Kein Faktencheck erspart uns die Arbeit, Positionen auszuhandeln. Faktenchecks versprechen der Leserin und dem Leser geistige Orientierung, und oft vermögen sie sie ihnen auch zu geben. Sie können ihnen aber niemals die Mühe abnehmen, sich in politischen Fragen ein Urteil zu bilden. Ein Faktum macht noch keine Meinung, aus Fakten baut sich keine Haltung auf. Eine überbordende Nachfrage nach Faktenchecks wird in dem Augenblick zum Problem, in dem Fakten – und seien sie noch so richtig – Positionen ersetzen sollen. Oder wenn so getan wird, als könnten Evidenzen unmittelbar in Handlungsmaximen übergeführt werden. Dann allerdings herrscht das Diktat der Zahl und verdrängt die demokratische Meinungsfindung im Zeichen einer vorgeblichen «Alternativlosigkeit». Ein Beispiel: Jemand äussert sich öffentlich gegen die allgemeine Maskenpflicht. Was ihn eigentlich umtreibt, ist der empfindliche, bis vor kurzem als unerhört geltende Eingriff in die persönliche Selbstbestimmung des Einzelnen. Hermeneutische Billigkeit würde verlangen, ihn hierin zu hören und ernst zu nehmen. Gewöhnt an die Regeln des Diskurses, sagt unser Jemand aber nun, die Maskenpflicht bringe nichts, bezogen auf das Infektionsgeschehen bei Covid-19. Angenommen, ein Faktencheck könne anschliessend diese Behauptung evidenzbasiert entkräften: Dann ist der Sprecher auch mit seinem weitergehenden Anliegen erledigt. Nicht mehr zur Diskussion gelangt so die wichtige Frage, ob wir denn überhaupt in einer Gesellschaft leben wollen, die aus volksgesundheitlichen Gründen jeden prinzipiell jederzeit zum Maskentragen verpflichten darf. Kein Faktencheck gibt hier Antwort. Wo Fakten, Zahlen und Daten das letzte Wort behalten, haben nicht quantifizierbare Werte wie Freiheit und das Recht auf Selbstbestimmung einen schweren Stand. Dass vor diesem Hintergrund die Neigung zu gefährlichem Irrationalismus wächst, kann eigentlich nicht verwundern. Um das Problem an einem zweiten Beispiel zu verdeutlichen: In einer öffentlichen Debatte wird darüber diskutiert, ob es einen Pull-Effekt gebe, wenn z. B. unbegleitete Minderjährige aus abgebrannten Flüchtlingslagern aufgenommen oder Menschen aus Seenot auf dem Mittelmeer gerettet werden. Was nun, wenn Studien belegen könnten, dass es in der Tat einen solchen Pull-Effekt gebe? Dass es sich also numerisch auszahlt, Migranten sehenden Auges ertrinken oder sie vor den Augen aller Welt unter menschenunwürdigen Umständen dahinvegetieren zu lassen – nur weil dadurch andere davon abgehalten werden, sich auf den verderblichen Weg nach Europa zu machen? Ist moralisch gerechtfertigt, was den Segen der Evidenz hat? Den gedanklichen und weltanschaulichen Kontext einer Einzelbehauptung mitzubedenken, würde hier bedeuten, die Frage («Gibt es einen Pull-Effekt?») als obszön zurückzuweisen und nicht weiter zu verhandeln, auch nicht im Rahmen eines Faktenchecks. Fakten zu überprüfen, ist unerlässlich. Auf der Basis möglichst gesicherter Fakten fängt die demokratische Auseinandersetzung aber überhaupt erst an. Fakten ersetzen keine Werturteile, und wenn sie dies dennoch beanspruchen, wird es für ein humanitäres Gemeinwesen gefährlich. Faktenchecks dürfen nicht dazu missbraucht werden, unliebsame Gesprächspartner und Positionen zu diskreditieren. Ausschlussmechanismen wirken destruktiv, sei es im internen gesellschaftlichen Diskurs, sei es an Europas Aussengrenzen. Einander zuhören und einander verstehen zu wollen in weltweitem Austausch: Das ist vielleicht noch viel schwieriger, als nur kühl die Fakten zu checken. *Johannes Odendahl* ist Literaturwissenschafter mit dem Schwerpunkt Hermeneutik und Universitätsprofessor für Didaktik des Unterrichtsfachs Deutsch an der Universität Innsbruck.