Eine offene Gesellschaft kennt keine abweichenden Meinungen Wilfried von Bredow, Eckhard Jesse 06.12.2020 NZZ NZZ Gastkommentar Eine offene Gesellschaft kennt keine abweichenden Meinungen Politische Urteilskraft stellt im gegenwärtigen öffentlichen Diskurs eine eher seltene Ressource dar. Eine nicht verengte Debattenkultur, die Konflikte offen anspricht, sie weder vertuscht noch sie als unüberbrückbar überhöht, kann politische Urteilskraft fördern. Phänomene wie «Wutbürger», die als «Mutbürger» auftreten, das gewachsene, oft abgrundtiefe Misstrauen gegen den Staat oder das reflexartige Eliten-Bashing sind Zeugnisse einer in dieser Form neuen Unversöhnlichkeit. Man trifft auf sie in ganz verschiedenen gesellschaftlichen Milieus. Was beunruhigen muss: Parolen, Einstellungen und die sektenartige Verbissenheit, eigentlich typisch für links- und rechtsextreme Aussenseiter, konnten inzwischen einen politischen Halo-Effekt erreichen und finden selbst in der Mitte des politischen Spektrums Resonanz. Dieser politische Klimawandel wirkt keineswegs nur in Deutschland, sondern ähnlich auch in vielen westlichen Demokratien. Demokratien sind längst nicht mehr lediglich als eine spezifische Herrschaftsordnung mit besonderer Kennzeichnung von Pflichten und Rechten der Staatsbürger und des politischen Systems anzusehen. Sie benötigen zudem mehr als ein Minimum an Beteiligungsbereitschaft und gesellschaftlicher Solidarität über die unterschiedlichen Interessen, Lebensstile und Streitfragen hinweg. Dazu braucht es politische Urteilskraft. Kernelement politischer Mündigkeit Ohne mündige Staatsbürger verdorrt die Demokratie. Das Kernelement politischer Selbstbestimmung ist die politische Urteilskraft. Sie hilft dem Einzelnen, Daten und Informationen zu sortieren, politische Zusammenhänge zu erkennen, einseitige und propagandistische Nachrichten zu durchschauen, kurz: sich in dem Getriebe der Politik zu orientieren. Nur wer weiss, was geschieht, kann Klarheit über die eigenen politischen Prioritäten erlangen und entsprechend agieren. Kluges Handeln setzt Sachkenntnisse voraus, das Interesse an ihrer Erweiterung und nicht zuletzt einen Grundstock an Lebenspraxis: «Kreisssaal, Hörsaal, Plenarsaal» – das sollte kein Leitbild sein. Wichtige Elemente politischer Urteilskraft sind unter anderem eine gesunde Skepsis, das Aushalten von Ambivalenz, eine Standfestigkeit beim Verteidigen der eigenen Argumentation und die Fähigkeit zur Selbstkritik. Dabei kommt es auf die Dosierung an. Sonst wird aus Skepsis paranoisches Misstrauen und aus Standfestigkeit Borniertheit. Neben einem klaren Verstand setzt politische Urteilskraft Menschenkenntnis, Realitätssinn sowie Einfühlungs- und Antizipationsvermögen voraus – nicht zuletzt Demut sowie die sokratische Einsicht von der Begrenztheit des eigenen Wissens. Das alles klingt recht anspruchsvoll. Tatsächlich muss politische Urteilskraft geübt werden. Im Übrigen bedeutet das nicht, politische Urteilskraft sei nur über permanentes Beschäftigen mit der Politik zu erreichen. In dem vor einigen Jahrzehnten in Mode gekommenen Begriff der Politisierung aller Lebensbereiche, selbst des Privaten, steckt eher ein Programm für die Erosion politischer Urteilskraft. Aber selbst ein Studium der Politikwissenschaft ist keine Garantie für politische Urteilskraft. Und diese ist auch unter Intellektuellen eher rar. Ein weitverbreiteter Trick: politische Konflikte mit moralischen Kategorien zu überschreiben. Manchen sozialen und politischen Gruppierungen gelten die eigenen politischen Werte und Urteile als moralisch höherwertig und irrtumsfrei. Wer sie infrage stellt, begeht ein Sakrileg, erfährt Ächtung. Deswegen fehlt es heute weithin an Kritik am Feminismus, um lediglich ein Beispiel zu nennen. Idealistische Gesinnungsethik überlagert oft realistische Verantwortungsethik. Hermann Lübbe hat vom Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft gesprochen. Irren ist menschlich, aber im Irrtum zu verharren, teuflisch, heisst es beim Kirchenvater Hieronymus. Selbst Personen, denen politische Urteilskraft innewohnt, sind vor Irrtümern nicht gefeit. Wer es kategorisch ablehnt, die eigenen politischen Meinungen und Einstellungen kritisch zu überprüfen, und zwar nicht nur im Austausch mit anderen, sondern auch durch das eigene Denken, macht sich zu Recht angreifbar. Die Versuchung dazu ist gross, und sie ist aus vielen Gründen, vor allem wegen der Verbreitung der sozialen Plattformen in letzter Zeit, grösser geworden. Eine Masse täglicher Falschinformationen überflutet das Netz. Verschwörungsmythen Angebote an ideologischen Pseudo-Gewissheiten mit absolutem Wahrheitsanspruch finden kräftig Zuspruch. Politische Urteilskraft ist angesichts solcher Tendenzen nötiger denn je, aber was grassiert, sind Verschwörungsmythen. Diese illustrieren mangelnde politische Urteilskraft. Jeweils zwei Beispiele mögen die Unterschiedlichkeit von Verschwörungsmythen augenfällig erhellen: Wer wider jede Evidenz die Mondlandung der Nasa-Astronauten Neil Armstrong und Buzz Aldrin 1969 bestreitet und wer die Terroranschläge auf das World Trade Center vom 11. September 2001 den Amerikanern zuschreibt, folgt Verschwörungsnarrativen. Immerhin fast jeder fünfte Deutsche – die Angaben in den Umfragen schwanken – glaubt daran. Das wiederum ist kaum zu glauben – und doch glaubhaft. Der Grundsatz «cui bono?» genügt für die Klärung der Urheberschaft nicht. Aus der Sicht von Verschwörungsideologen hätte sich im ersten Fall die USA einer Tat gerühmt, im zweiten eine solche bestritten, jeweils zu Unrecht. Dass derartige Mythen ins Kraut schiessen, fusst auf vielen Ursachen: der Komplexität der Geschehnisse, dem Glauben an dunkle Mächte, dem Vorhandensein starker Feindbilder, dem Verkehren in abgeschotteten Milieus. Komplizierter liegt der Fall bei zwei anderen aktuellen Themen: den «Russland-Verstehern» und den Gegnern der Schutzmassnahmen in puncto Covid-19. Hier ist zu unterscheiden zwischen plumper Apologie und differenzierter Kritik, wobei die Grenzen fliessend sind. Gewiss, es gibt genügend unkritische Putin-Parteigänger, doch unbefangene Fragen ohne Soupçon nach dem verabreichten Gift an den Kreml-Kritiker Alexei Nawalny gleiten noch nicht ins Verschwörerische ab. Gleiches gilt für den, der die Frage aufwirft, ob der Staat aus Angst um die Gesundheit seiner Bürger im Zusammenhang mit Covid-19 nicht überreagiert und dabei vielleicht Kollateralschäden auslöst. Wer in diesen Fällen vorschnell, geradezu reflexhaft von Verschwörungstheorien redet, muss den Vorwurf mangelnder politischer Urteilskraft, die er bei der Gegenseite zu Recht anprangert, selber hinnehmen. Allerdings: Wer eine verstiegene politische Sicht aus einer bequemen Konformismus-des-Nonkonformismus-Position vertritt oder aus einem politischen Kalkül heraus, um dem politischen Widersacher eins «auszuwischen», fällt nicht unter die Rubrik mangelnde Urteilskraft, fischt er doch in dem Reservoir der taktischen Raffiniertheit. Personen, die sich verrennen, glauben hingegen an das, was sie sagen. Wer dagegen etwas «leugnet», weiss genau, dass die eigene Sicht so nicht stimmt. Was zu tun ist Mangelnde politische Urteilskraft hat für das Gemeinwesen negative Konsequenzen. Sie provoziert selektives Wahrnehmen wie plump-plakative Positionen. Und Indoktrination verfängt eher. Um an David Goodhart anzuknüpfen: Den «Somewheres», den «Irgendwo-Menschen», stehen die «Anywheres», die «Überall-Menschen», gegenüber. Wenn die kosmopolitisch gesinnte Elite das «einfache Volk» abschätzig als dumm-populistisch abqualifiziert und die Bürger in ihrer Mehrheit «die da oben» nicht mehr als ihre legitimen Interessenvertreter betrachten, brodelt es, mit unabsehbaren Folgen für die Liberalität wie für die Stabilität des Gemeinwesens. Vertrauen geht verloren, politische Urteilskraft bleibt auf der Strecke. Wie kann diese wachsen? Die Frage zu stellen, fällt weitaus leichter, als sie zu beantworten. Eine nicht verengte Debattenkultur, die Konflikte offen anspricht, sie weder vertuscht noch sie als unüberbrückbar überhöht, kann politische Urteilskraft fördern. Jede Seite sollte im Diskurs gegnerische Positionen ernst nehmen und sie nicht durch politische wie sprachliche Korrektheit stigmatisieren. Und: Angstfreie Kommunikation ist vonnöten, das Wort von der «Kontaktschuld» verräterisch. Was wenig ergiebig ist, aber immer wieder vorkommt: einer Position vorzuhalten, sie kriege «Beifall von der falschen Seite». Dieser Befund sagt nichts über die Plausibilität eines Arguments aus. Wer in einer offenen Gesellschaft von «abweichenden Meinungen» spricht, als solle es bloss «normale» geben, verkennt den Sinn der politischen Urteilskraft. *Wilfried von Bredow* und *Eckhard Jesse* lehrten Politikwissenschaft an den Universitäten in Marburg und in Chemnitz.
Tobias Weltner vor etwa einer Stunde 4 Empfehlungen Dass ausgerechnet an unseren Universitäten inzwischen manchen Fachschaften keine offene Debattenkultur mehr besteht, sondern unliebsame Vortragende lieber durch Trillerpfeifen anstatt mit Argumenten aus dem Haus gejagt werden, ist nicht ganz neu, scheint aber neuerdings salonfähig zu werden. Extremisten und Aluhüte diskreditieren einen eigentlich viel differenzierteren Protest, Medien und Politik verweisen indes gern vor allem auf die offensichtlichen Freaks. Moralische Argumente mit Rehblick ersparen Parteien und Kirchen inhaltliche Diskussionen, aber öffentliches Versagen überführt diese Moral als fadenscheinig und reines Instrument (Giffey, von der Leyen, Scheuer, Umgang mit Mißbrauchsopfern). Die etablierten Parteien glauben wahrscheinlich wirklich, alternativlose Arbeit zu leisten, beflügeln aber kreative Alternativen auch nicht wirklich: anstelle parlamentarischer Debatte treten eingekaufte Berater. Wo soll ein gebildeter moderater lösungsorientierter Mitbürger heute also kultiviert konstruktive Kritik einbringen? Lautheit sticht Fakten, Moral sticht Argumente, Politik sind geschlossene Gesellschaften, und Proteste werden von Extremisten und Verwirrten gekidnapt. Möglicherweise ist die stille Mitte der Bevölkerung unter diesen geänderten Prämissen einfach etwas zu - still. Engelbert Gartner vor etwa 3 Stunden 4 Empfehlungen Sehr guter, lesenswerter Artikel. Kurz zusammengefaßt: Menschen, die kaum Wissen, aber einen festen Glauben haben, sind unberechenbar. Wissen und Glauben verhalten sich wie zwei Schalen einer Waage. In dem Maße, als die eine steigt, sinkt die andere. ( Schopenhauer )