Der autoritäre Charakter ist zurück: warum es ein neues (und anderes) 68 braucht Alexander Grau 05.10.2020 NZZ Die Toleranten erweisen sich als intolerant, die Progressiven als reaktionär: willkommen in der Gesellschaft der Gegenwart. Ihre Götzen heissen Offenheit, Diversität und Multikulturalität. Alexander Grau 2 Kommentare 05.10.2020, 05.30 Uhr Die Bühne ist frei, aber wer will noch sprechen? Andrew Benge / Redferns Wir leben in einer antiautoritären Gesellschaft, und wir sind stolz darauf. Institutionen wie Universitäten, Kirchen oder Parlamente, die noch vor wenigen Jahrzehnten Ehrfurcht einflössten, werden heute müde belächelt. Lehrer, Pfarrer und Polizisten haben ihre Aura als Respektsperson schon lange verloren. Hierarchien werden flacher. Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft, die der Soziologe Helmut Schelsky schon Anfang der 1950er Jahre diagnostizierte, ist Wirklichkeit geworden. Das schlägt sich auch in der Alltagskultur nieder. Solide Manager gefallen sich inzwischen in sportiven Sneakern, Theaterintendanten sind mit dem Hoody unterwegs, altehrwürdige Unternehmen schmeissen sich mit einem platten Du an ihre Kundschaft heran. Was einmal gute Manieren waren, empfinden die meisten Zeitgenossen als Einschränkung ihrer persönlichen Autonomie. Der autoritäre Charakter vergangener Zeiten, er scheint endgültig ausgedient zu haben. Nie, so scheint es, lebten wir in einer freieren Gesellschaft. Die autoritäre Kehrseite Auf der anderen Seite erleben wir eine Sehnsucht nach Verboten, Vorschriften und Autorität. Rauchen, Trinkverhalten und Ernährung sind seit Jahren in das Visier von Regulierungsfanatikern geraten, denen es offensichtlich eine tiefe Befriedigung bereitet, ihren Mitmenschen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben. Fernreisen und Kreuzfahrten gelten zunehmend als moralisch verdächtig, vom Autofahren ganz zu schweigen. Mehr noch stehen aber die freie Rede, der offene Meinungsaustausch und das unkuratierte Denken unter der strengen Observanz eines politmoralischen Gouvernantentums. In den traditionellen Medien und im Kulturbereich herrscht häufig ein belehrender Ton. Und nicht nur Intellektuelle unterscheiden zunehmend zwischen ihren privaten Ansichten und dem, was sie öffentlich zu sagen wagen. Die antiautoritäre Gesellschaft zeigt ihr autoritäres Gesicht. Wie ist es dazu gekommen? Das Paradox der Emanzipation Auslöser dieser Entwicklung sind paradoxerweise die zentralen Anliegen von Aufklärung und Liberalismus: Emanzipation und Selbstbestimmung. Denn in der gesellschaftlichen Praxis mündet das Ideal freier Selbstverwirklichung zunehmend in das narzisstische Verlangen, für jeden möglichen Lebensentwurf Applaus und Bewunderung zu bekommen. Wird dieser Zuspruch versagt oder gar Kritik geübt, empfindet dies der sich selbst verwirklichende Mensch als narzisstische Kränkung, als Diskriminierung, als emanzipationsfeindlich. Das aber darf nicht sein, da so das Grundversprechen der Aufklärung auf uneingeschränkte Selbstbestimmung in Gefahr gerät. Also bedarf es der Sprachregelungen und Verhaltensweisen, die Kritik an emanzipatorischen Projekten unmöglich machen. Dabei liegt es in der Logik egalitärer Gesellschaften, dass der Mitbürger und Nachbar qua digitale Medien über die Einhaltung dieser neuen Regeln und Normen wacht. Indem er so Haltung zeigt, wird er zum Repräsentanten der Zivilgesellschaft geadelt. Da aber auch egalitäre Gesellschaften Fachleute für das richtige Verhalten brauchen, bilden sie neue Autoritäten aus. Autorität hat nun nicht mehr der Professor, der Meister oder der Polizist, sondern die Diversity-Beauftragte und die Antidiskriminierungsstelle. Ihre Macht liegt nicht in der Tradition eines Berufsstandes oder gar einer fachlichen Qualifikation, sondern in ihrer ideologischen Gesinnung. Diese ist deshalb so wirkmächtig, weil sie vollständig mit den Idealen und dem Lebensgefühl einer hedonistischen Konsumgesellschaft kompatibel ist. Wertvoll ist demnach alles, was der persönlichen Sinnsuche dient: Offenheit, Diversität, Vielfalt. Als verdächtig hingegen gilt, was einschränkt und als diskriminierend empfunden werden kann – und das kann, je nach Vorliebe des Betroffenen, so ziemlich alles sein. So erwächst aus dem ursprünglich antiautoritären Impuls der Aufklärung schliesslich das Politwächtertum unserer Tage. Der autoritäre Charakter, einst Feindbild der 68er-Bewegung, ist wiederauferstanden. Fromm und Adorno Für Erich Fromm, einen der grossen Vordenker der Kulturrevolution der 1960er Jahre, war es vor allem die Überforderung durch die Freiheit, die Menschen letztlich in Unterwürfigkeit, Konformismus und Gehorsam treibt. Hier präge sich, so Fromm, der autoritäre Charakter aus, der in der Identifikation mit der jeweils herrschenden Ideologie und ihren Repräsentanten seine Ohnmacht und Unsicherheit kompensiere. Vor dem Hintergrund seiner eigenen historischen Erfahrung dachte Fromm dabei vor allem an den Faschismus. Was er nicht ahnte: Antifaschismus und Antiautoritarismus können ebenfalls zu einer herrschenden Ideologie mutieren, mit der sich der autoritäre Charakter aus Unterwürfigkeit und Gehorsam identifiziert. Auch Theodor W. Adorno verengte unter dem Eindruck des Nationalsozialismus das Profil der autoritären Persönlichkeit weiter auf den konservativen, prüden, menschenverachtenden und faschistoiden Kleinbürger. Allerdings zeigen die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, dass auch unter freizügigen Weltbürgern der autoritäre Charakter prächtig gedeiht. Denn gerade der progressive und engagierte Kosmopolit unserer Tage versucht seine Ängste mittels Dogmatismus, Unterwürfigkeit und moralischer Orthodoxie zu kompensieren. Dafür klammert er sich panisch an die in seinem Milieu angebeteten Götzen, an Diversität, Offenheit und Multikulturalität. Sein zeitgeistiger Habitus kaschiert dabei nur unzulänglich, dass er sich damit ebenso einer autoritären Ideologie unterwirft wie sein biederer Vorgänger – nur dass diese eben nicht prüde und verklemmt daherkommt, sondern spassorientiert und scheinbar weltoffen. Wie in einer hedonistischen Konsumgesellschaft nicht anders zu erwarten, ereifert sich der autoritäre Charakter unserer Tage nicht über laute Musik, Kindergeschrei oder ungepflegte Vorgärten. Bürgerliche Tabus hinsichtlich Sexualmoral oder Drogenkonsum verlacht er weltmännisch. Stattdessen empört er sich über schlecht getrennten Müll und SUV-Fahrer, über angebliche Sexisten und Leistungsethiker aller Art. Marcuses Intuition Es war Herbert Marcuse, ein weiterer Vordenker der 68er, der die Toleranz der liberalen bürgerlichen Gesellschaft als im Kern repressiv entlarvte, da sie wirkliche Opposition marginalisiere. Seine modernen Adepten geben sich jedoch nicht einmal Mühe, Toleranz auch nur zu heucheln. Die Emanzipierten unserer Tage haben aus ihrem Sieg über die repressive Toleranz des alten liberalen Bürgertums gelernt, dass nur rigide Intoleranz in der Lage ist, Macht zu sichern und den vorpolitischen Raum der Diskurse zu beherrschen. Ihre Pointe besteht darin, dass sie diese Intoleranz als Toleranz ausgeben. Ihren politischen Gegnern begegnen sie daher mit konsequenter Ausgrenzung, Diskreditierung, gezielter Delegitimierung und allen Techniken der Meinungsmache. Der autoritäre Charakter ist durch die gesellschaftlichen Umwandlungsprozesse der letzten Jahrzehnte nicht verschwunden, er hat lediglich die antiautoritäre Rhetorik übernommen und in ihr Gegenteil verkehrt. Diese Intoleranz des neoautoritären Zwangscharakters droht zu einer Gefahr für die Demokratie zu werden, eben weil sie sich als deren Verteidigerin aufspielt. Doch wenn Demokratie mit undemokratischen Mitteln verteidigt wird und Toleranz mithilfe der Intoleranz, dann werden zentrale Errungenschaften der Aufklärung wie Freiheit und Autonomie auf dem Altar des politischen Zeitgeistes geopfert. Gegen diesen Ungeist von Neopuritanismus und Neoautoritarismus helfen nur Mut, Neugier und die Anarchie des freien und unvoreingenommenen Denkens. So paradox es klingt: Es braucht ein neues 68, nur diesmal andersherum. *Alexander Grau* ist promovierter Philosoph und freier Autor. Zuletzt von ihm erschienen sind «Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung» (2020) und «Politischer Kitsch. Eine deutsche Spezialität» (2019).
2 Kommentare Bernhard Marquardt vor 18 Minuten Die aggressive Intoleranz der selbsternannten neuen Moral-Despoten sind eine existenzielle Bedrohung einer offenen Gesellschaft. Das weckt seltsame Assoziationen: Die mediale „Machtergreifung“ durch neue, links-grüne Jakobiner/innen. Eine Meinung-Haltungs-Inquisition als journalistischer mainstream. Aktivisten – die Pastaran der Meinungsdiktatur. woke - erwacht, wachsam - quasi die Illuminaten der Meinungsmacher. framing - hieß bei der Stasi „Zersetzung“. cancel culture - systematischer Boykott missliebiger Personen oder Organisationen. Verfemung - Rufmord durch die brandmarkende Kraft suggestiver Worte. Randalierende Antifa-Faschisten - Sturmtrupps der SA. „Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen.“ (Voltaire) Thomas Eckert vor 22 Minuten Ich kann nur sagen, der Autor hat mit allen Punkten recht. Es reicht heutzutage beispielsweise schon, lobende Worte zu Trumps Außenpolitik zu äußern, um vollständig gesellschaftlich geächtet zu werden. Ich setze das ein, um ungewollten Einladungen zu entgehen.