«Die Verlängerung des Lockdowns ist nicht vermittelbar»: Der Ethiker Christoph Lütge bleibt bei seiner Kritik an den Corona-Massnahmen Alexander Kissler 12.02.2021 NZZ NZZ Markus Söder warf Christoph Lütge aus dem Bayerischen Ethikrat. Dieser habe dem Ansehen des Gremiums geschadet. Im Interview spricht der Wirtschaftsethiker über das Risiko der eigenen Meinung und die Einseitigkeit der Politikberatung. Alexander Kissler, Berlin 124 Kommentare Herr Professor Lütge, Sie unterrichten Wirtschaftsethik an der Technischen Universität München und wurden im Oktober von der bayrischen Staatsregierung in den damals neu geschaffenen Bayerischen Ethikrat berufen – ein unabhängiges Gremium, wie es heisst, mit «hochkarätigen Experten» aus dem «gesamten Spektrum ethisch relevanter Bereiche». Mit welcher Erwartung sind Sie dem Ethikrat beigetreten? Ich halte den Bayerischen Ethikrat gerade deshalb für eine gute Idee, weil er sich im Gegensatz zu anderen Ethikräten nicht nur mit medizin- oder bioethischen Fragen beschäftigt. Hier stehen Zukunftsthemen wie Nachhaltigkeit, Digitalisierung oder künstliche Intelligenz im Mittelpunkt. Zentral war für mich die Bedingung, ohne Vorgaben und kritisch arbeiten zu können. Ich hoffte, dass diese kritische Arbeit auch gewollt und geschätzt würde. Diese Hoffnung trog offenbar. Die bayrische Staatskanzlei hat vor wenigen Tagen Ihre Berufung revidiert. Sie wurden nach nur einem Treffen aus dem bisher 18-köpfigen Ethikrat entfernt. Bei der konstituierenden Sitzung Anfang Dezember habe ich mich dafür starkgemacht, über die Verhältnismässigkeit der Anti-Corona-Massnahmen zu debattieren. Ob es nun dazu kommen wird, weiss ich nicht. Die bayrische Staatskanzlei teilte mir brieflich mit, dass meine Bestellung in den Ethikrat widerrufen worden sei. Eine Begründung enthielt das Schreiben nicht. Der «Bild»-Zeitung entnehme ich, «wiederholte öffentliche Äusserungen» meinerseits seien «mit der verantwortungsvollen Arbeit im Ethikrat nicht in Einklang zu bringen». So wird die Staatskanzlei von «Bild» zitiert. Worauf könnte die Staatskanzlei anspielen? Ich habe mich mehrfach kritisch zum Lockdown geäussert. Ich halte ihn für völlig unnötig und für nicht verhältnismässig. Auch war es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass man das Durchschnittsalter der Corona-Toten nicht ignorieren kann. «Es kann doch nicht sein, dass man sich nicht einmal der Debatte stellt. Ein Ethikrat muss solche Debatten führen.» Sie hatten bereits Mitte Dezember vergangenen Jahres gemahnt, ein Lockdown verursache viele Langzeitschäden, und sich einen Rüffel des Ministerpräsidenten eingehandelt: «Ich glaube», hatte Markus Söder erwidert, «der Professor irrt.» In der Fernsehsendung «Kontrovers» des Bayerischen Fernsehens sagten Sie Ende Januar: «Das Durchschnittsalter der Corona-Toten liegt bei etwa 84 Jahren. Da stirbt man an Corona oder an etwas anderem, so ist das nun mal. Menschen sterben.» Das klingt recht kalt und wenig einfühlsam. Meine Aussage fiel in einem ganz bestimmten Kontext. Es ging um die Frage, welche Massnahmen gegen Covid-19 zu treffen seien. Ich halte das Coronavirus keineswegs für ungefährlich. Aber sind flächendeckende Lockdowns über viele Monate, ist das Schliessen von Hotels und Fitnessstudios verhältnismässig bei einem Virus, das in erster Linie alte Menschen gefährdet? Das muss man hinterfragen dürfen. Es kann doch nicht sein, dass man sich nicht einmal der Debatte stellt. Ein Ethikrat muss solche Debatten führen. Also ist der Bayerische Ethikrat entgegen seiner Selbstbeschreibung keineswegs unabhängig? Zumindest wäre Unabhängigkeit die Grundbedingung meiner Mitarbeit im Ethikrat. Die Freiheit der öffentlichen Meinungsäusserung muss garantiert sein. Ein Ethikrat gehört in die Öffentlichkeit, nicht ins Hinterzimmer. Sie selbst suchen in Interviews und in den sozialen Netzwerken offensiv die Öffentlichkeit. Dem Virologen Christian Drosten werfen Sie eine «unverantwortliche Angstrhetorik» vor. Lockdowns nennen Sie ein wirkungsloses mittelalterliches Instrument, es sei verstörend, wie die Politik ständig neue Drohkulissen aufbaue und Panik verbreite. Solche polemischen Töne erwartet man nicht von einem Wissenschafter. Die andere Seite äussert sich nicht minder polemisch. Manchmal muss man zuspitzen. Wir haben insgesamt im letzten Jahr eine Eskalation der Sprache erlebt. Ich gebe zu, dass auch ich lieber etwas geruhsamere Debatten führte mit fein abgewogenen Sentenzen. Momentan herrscht eine gewisse Kurzatmigkeit. Auch Herr Drosten haut manche Dinge einfach so raus. «Ethik muss eine kritische Stimme sein – sonst ist sie keine Ethik.» Der Soziologe Armin Nassehi, Mitglied im Bayerischen Ethikrat, distanzierte sich von Ihrer Kritik an den Lockdown-Massnahmen und nannte es einen Etikettenschwindel, dass Sie diese Kritik mit der Autorität des Ethikrates vertreten. Hat er recht? Ich habe nie behauptet, im Namen des gesamten Ethikrates zu sprechen. Ich habe sogar ausdrücklich, etwa in dem BR-Interview, darauf hingewiesen, dass das nicht der Fall ist. Im Übrigen sehe ich die Aufgabe eines Ethikrates auch nicht darin, mit der Stimme von Autorität zu sprechen. Ethik muss eine kritische Stimme sein - sonst ist sie keine Ethik. Sie nehmen für sich in Anspruch, «begründete und evidenzbasierte Kritik» an der gegenwärtigen Corona-Politik zu üben. Gerade die Lockdown-Befürworter behaupten, evidenzbasiert zu handeln. Auf welche Evidenz berufen Sie sich? Zahlreiche Stellungnahmen, unlängst sogar von der Weltgesundheitsorganisation, zeigen, dass Lockdowns mehr Schaden anrichten als Nutzen zu stiften. Die Kollateralschäden sind zu hoch. Täglich sterben in Deutschland etwa 2700 Menschen – viele von ihnen an Krebs, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, an anderen Krankheiten. Im Lockdown hat die Anzahl der Vorsorgeuntersuchungen massiv abgenommen. Auch soziale und psychische Kollateralschäden werden immer deutlicher sichtbar, gerade bei der jungen Generation. Das besorgt mich sehr. Die gegenwärtige Corona-Politik wird auf dem Rücken der Jugend ausgetragen. In ihrer jüngsten Regierungserklärung verwies die Bundeskanzlerin auf Virusmutationen aus England, Südafrika und Brasilien, die «deutlich aggressiver» seien als das Ursprungsvirus. Deshalb müssten künftige Lockerungen an eine niedrige Inzidenz von 35 geknüpft werden. Was soll daran verkehrt sein? Die Politik greift nach dem letzten Strohhalm, um an ihrer Lockdown-Strategie festhalten zu können. Vielleicht will man auch durch drastische Anordnungen vom eigenen Impfversagen ablenken. Es gibt keine belastbaren Zahlen, die belegen, dass die Mutation für mehr Krankheit und Tod verantwortlich wäre. Ansteckender mag sie sein, aber in den Herkunftsländern sinkt die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle. Jedes Virus durchläuft Mutationen. Ein Gastprofessor aus Südafrika berichtete mir, dass dort die Restriktionen in grossem Stil aufgehoben werden. Die Kanzlerin beruft sich auf Virologen. Sie sind Wirtschaftsethiker. Haben Sie die nötige Expertise, es besser zu wissen? Corona ist nicht nur ein virologisches Problem. Epidemiologen, die sich mit der Bekämpfung von Pandemien beschäftigen, kommen zu anderen Schlüssen. Sie werden aber kaum zu Rate gezogen. Auch unter den Virologen gibt es unterschiedliche Auffassungen, denken Sie etwa an Klaus Stöhr, der im Drücken der Inzidenz auf einen beliebigen Inzidenzwert keineswegs das vorrangige Ziel erblickt. Entscheidend ist es, die Zahl der Toten zu minimieren und die Krankenhäuser funktionsfähig zu halten. Corona verlangt einen interdisziplinären Ansatz. Auch Ethiker, Juristen, Sozialwissenschafter, Psychologen und Ökonomen müssen gehört werden. Die einseitige Besetzung von Beratergremien ist ein grosses Problem. Die strengen Massnahmen sollen gerade die Überlastung des Gesundheitssystems verhindern. Das ist an den Haaren herbeigezogen. Es war schon ein Witz, dass eine Inzidenz von 50 zum Grenzwert werden konnte. Man hat einfach ein paar Gesundheitsämter gefragt, obwohl aus vielen Städten mittlerweile die Rückmeldung kam, auch deutlich mehr Infektionen zurückverfolgen zu können. Wir sehen daran, dass das Virus in hohem Mass politisiert worden ist. «Nicht das Virus, sondern der politische Umgang mit ihm ist für diese Krise verantwortlich.» Ist das in anderen Ländern anders? Wir sehen sinkende Infektionszahlen auch in Ländern, in denen es gar keinen Lockdown gab. Die Verlängerung des Lockdowns ist nicht vermittelbar. Es gibt keinen Grund, Restaurants, Fitnessstudios und andere Betriebe mit funktionierendem Hygienekonzept nicht sofort zu öffnen. Frau Merkel und viele andere Politiker sehen Europa in der «schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg». Die Belastung der Krankenhäuser, insbesondere der Intensivstationen, bewegt sich im Rahmen des jahreszeitlich Üblichen. Insofern ist nicht das Virus, sondern der politische Umgang mit ihm für diese Krise verantwortlich. Weit mehr als 60 000 Menschen sind laut der Kanzlerin bisher an Corona gestorben. Wollen Sie das bestreiten? Das kann man nicht so stehenlassen. Diese Menschen sind zum grossen Teil nicht an Corona gestorben, sondern sie sind auf das Virus positiv getestet worden. Ein positiver Test sagt in keiner Weise etwas über die tatsächliche Todesursache aus, nicht einmal über eine tatsächliche Covid-19-Erkrankung. Einer solchen Aussage hielte Markus Söder entgegen, dass jedes Menschenleben zähle. Dann müsste der Herr Ministerpräsident sich in vergleichbarer Form auch zu Krebs- oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen äussern. Im Übrigen empfehle ich allen deutschen Politikern den Blick auf die umliegenden Länder. Der schwedische Weg etwa, über den in verzerrter Weise berichtet worden ist, hat sich als klug und verantwortungsvoll erwiesen. Ich war im September dort und habe mich selbst überzeugt. Einzelne Fehler beim Schutz der Älteren sind am Anfang gemacht worden, ja, aber das wurde korrigiert. Seit letztem Sommer hat Schweden sehr niedrige Todeszahlen, auch in der derzeitigen Welle - und das ohne all die Aufregung und die Kollateralschäden, die Corona-Massnahmen in anderen Ländern mit sich bringen. Fürchten Sie nicht, mit solchen Aussagen die bayrische Staatsregierung nachträglich in der Ablehnung Ihrer Person zu bestätigen? Wenn man Kritiker im Bayerischen Ethikrat nicht haben will, kann es nicht mein Ehrgeiz sein, einem solchen Gremium anzugehören. Sie bleiben ordentlicher Professor der Technischen Universität und könnten dort nun als jemand gelten, der seinen Ruf aufs Spiel gesetzt hat. Das muss man manchmal tun. Wir Professoren riskieren oft zu wenig. Wir sind dafür da, unbequeme Auffassungen zu äussern, ohne sofort unsere Entfernung fürchten zu müssen. In früheren Jahrzehnten gab es eine grössere Risikobereitschaft als heute. Professoren sollten keine Scheu haben, sich in der öffentlichen Arena auch einmal die Hände schmutzig zu machen. Zur Person Der Wirtschaftsethiker Christoph Lütge ist seit 2010 Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Technischen Universität München und seit 2020 Distinguished Visiting Professor an der University of Tokyo. Er habilitierte sich 2005 mit einer Arbeit über «Normative Grundlagen moderner Gesellschaften unter Bedingungen der Globalisierung». Von ihm stammt u. a. «Ethik des Wettbewerbs: Über Konkurrenz und Moral» (C. H. Beck, 2014).