Aus Bürgern dürfen keine Hilfssheriffs werden Alexander Kissler 25.09.2020 NZZ Der andere Blick Alexander Kissler, Berlin 125 Kommentare Mit steigenden Corona-Fallzahlen wächst die Angst. Der Staat setzt auf Strenge und ermuntert zur Kontrolle der Nachbarn. Ein permanentes Klima des Misstrauens aber schadet unserer Gesellschaft. Menschen mit Masken vor einer S-Bahn in Berlin. Getty Alexander Kissler, Redaktor im Berliner Büro der «Neuen Zürcher Zeitung». Wie aus einer anderen Welt klingt die letztjährige Weihnachtsansprache des deutschen Bundespräsidenten. Dabei liegt sie erst neun Monate zurück. Am 25. Dezember 2019 schloss Frank-Walter Steinmeier seine Ausführungen mit einer klassischen Wendung. Er rief zu «Mut und Zuversicht» auf, «das wünsche ich Ihnen und uns allen für das kommende Jahr». Der Wunsch ging nicht in Erfüllung. 2020 steht im Zeichen der Corona-Pandemie und im Zeichen von Angst und Ängstlichkeit. Jahr um Jahr forderten Politiker aller Couleur Optimismus ein, Steinmeier und die deutsche Kanzlerin vorneweg. Optimismus wurde desto lauter zur Bürgerpflicht erklärt, je krisenhafter sich die Probleme zuspitzten. Damit ist es vorbei. Heute muss der Optimismus es sich gefallen lassen, in einem Atemzug mit der Unvernunft genannt zu werden. Mut erscheint als Tollkühnheit. Das zynische Bonmot vom Optimismus, der nichts anderes sei als ein Mangel an Einsicht, wird in diesen Tagen auf das Traurigste bestätigt. Erfuhren wir im Jahr 2019, dass Panik manchmal doch angeraten sein soll, zumindest dann, wenn es um den Klimawandel geht – «I want you to panic», rief die kindliche Umweltschutzaktivistin Greta Thunberg –, so lernen wir 2020, dass Angst ein guter Ratgeber sein soll. Von Angst getrieben sind die immer neuen Szenarien eines pandemisch zugespitzten Winters, von einem Angstfuror getragen sind die wahrlich einschneidenden Neudefinitionen des öffentlichen Raumes. Privat soll künftig nur derjenige Zustand sein, in dem die Maskenpflicht entfällt. So lautet die Summe aus den rapide zunehmenden Regeln und Empfehlungen für die «neue Normalität». Auf diese Weise entsteht schleichend nicht nur eine Angst-, sondern auch eine Kontrollgesellschaft. Je mehr Angst im Leben herrscht, desto mehr braucht es Kontrolle über dieses Leben. Markus Söder sieht nur noch Weggabelungen Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder sagte soeben, man wisse über das Coronavirus wenig und dürfe «Nichtwissen nicht durch Optimismus oder Unvernunft ersetzen». Als hätte es je einen Optimismus gegeben, der sich nicht im Vorhof des Wissens bewegte. Das unbekannte Terrain ist der Boden, in dem Optimismus oder Pessimismus gedeihen. Keineswegs ist Optimismus der Bruder der Unvernunft. Sonst wären die staatspolitischen Aufrufe zu Mut und Zuversicht billige Ausweichmanöver gewesen. Söder weiss ein eigenes Lied von der Unvernunft zu singen. Sein Bundesland hat nach Berlin die derzeit höchste Zahl an Neuinfektionen mit Sars-CoV-2 pro 100 000 Einwohner. Auch starben nirgendwo in Deutschland mehr Menschen mit oder an dem Virus als in Bayern. Derzeit sind es rund 2650 Todesfälle. Und das, obwohl sich Söder als markiger Verbotssheriff gefällt, der an immer neuen «Weggabelungen» immer neue dramatische Appelle erlässt – mit offenbar durchwachsenem Erfolg. Eine «wichtige Weggabelung» sah er Ende August, eine «ganz spannende Weggabelung, infektiologisch, aber auch psychologisch-mental», erblickt er nun. Die Rhetorik des fortgesetzten Alarms deutet auf Angst als handlungsleitendes Element, auch wenn sie sich als Sorge verkleidet. «Die Sorge bleibt» (Söder am 6. Mai), «Wir sind sehr besorgt» (Söder am 22. September). Angst und Ängstlichkeit werden durch Aussagen genährt, die eine düstere Zukunft als in Stein gemeisselt präsentieren. Der Berliner Virologe Christian Drosten, frisch von Frank-Walter Steinmeier mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt, gab bekannt: «Die Pandemie wird jetzt erst richtig losgehen.» Waren alle Versuche der Eindämmung, einmal mit, einmal ohne Drostens Segen, umsonst? Wir «müssen», forderte Drosten, «Dinge ändern», und «wir müssen aufhören, uns über Dinge wie Fussballstadien zu unterhalten». Politikberatung im Sound des Müssens trägt nicht dazu bei, die sonst gepflegten Tugenden des Muts und der Zuversicht zu unterstützen. Gedrückt geht man nach solcher virologischer Tageslosung in den Alltag. Zu viel Angst macht krank. Angst ist Stress. Im Schatten der Angst wächst eine Kontrollgesellschaft Im Schatten teils grassierender, teils forcierter Angst wächst eine Kontrollgesellschaft heran. Die bayrische Gesundheitsministerin Melanie Huml wurde mit der Aussage zitiert, sie sehe «die Menschen untereinander in der Verantwortung, sich gegenseitig zu kontrollieren und anderen auch mitzuteilen, wenn beispielsweise jemand seine Maske nicht trägt». Im Originallaut des Interviews sagte Huml, «die Kreisverwaltungsbehörden werden dem dann nachgehen». Gemeint waren Fälle, in denen «der eine oder andere Nachbar» seinen Mitnachbar erfolglos auf die Maskenpflicht hinweist. Offenbar setzt der Staat auf den Bürger als Hilfssheriff. Markus Söder schrieb, «im privaten Bereich» gebe es «keine Kontrollmöglichkeit wie in der Gastro». Es klang, als bedauere er die fehlenden staatlichen Rechte des Zugriffs auf Eigenheim und Mietwohnung. Positive Folgen für die Volksgesundheit mögen sich einstellen, negative Folgen für das Zusammenleben sind bereits da. Der Geist des Denunziantentums ist aus der Flasche. Schon stehen Menschen vor Gericht, weil sie gegen die Maskenpflicht in der Öffentlichkeit verstiessen. Wenn immer mehr Kommunen, wie nun München, für beliebte und belebte öffentliche Plätze eine Maskenpflicht verhängen: Explodieren dann neben den Fallzahlen auch die Zahlen der Gerichtsfälle? Ersetzt der drohend erhobene Zeigefinger den Handschlag? Wird «Wir sehn uns vor Gericht!» zum neuen Abschiedsgruss unter Fremden? Wird Stadtluft nicht mehr frei, sondern unfrei machen und unfroh? Wenn eine Amerikanerin, die aus behördlich verhängter Quarantäne ausbüxte, sich wegen «gefährlicher Körperverletzung» verantworten muss: Geht Körperverletzung künftig mit Symptomfreiheit einher? Die meisten mit dem Coronavirus Infizierten haben keine grösseren Beschwerden. Laut dem Berliner Robert-Koch-Institut liegt die Sterblichkeit bei etwa dreieinhalb Prozent der positiv auf das Virus Getesteten. Andere Daten deuten auf eine geringere Rate. Die Zahl der Sterbefälle in Deutschland bewegte sich zwischen Januar und Juli 2020 auf einem geringfügig höheren Niveau als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Natürlich lügen die aus Deutschland und anderen Ländern übermittelten Zahlen nicht. Immer mehr Menschen weltweit infizieren sich mit dem Virus. Deutschland ist keine Insel der Glückseligen. Das Virus existiert, und es kann tödlich sein. Von Dienstag auf Mittwoch dieser Woche erhöhte sich die Zahl der in Deutschland an oder mit dem Virus gestorbenen Menschen um 19 auf rund 9400. Aggressive Maskenverweigerer sind ebenso eine Zumutung wie Corona-Hilfssheriffs. Ist auf die unbestreitbar vorhandene Bedrohungslage aber die Auflösung der Gesellschaft in immer kleinere Teilbereiche und damit das Ende des Sozialen die richtige Antwort? Leben wir besser, wenn die Angst Regie in unseren Leben führt und wir im Gegenüber den misstrauisch beäugten, allzeit anzuschwärzenden Auflagenbrecher sehen? Wenn Menschen aus München oder Würzburg nicht mehr ausserhalb Bayerns beherbergt werden dürfen, weil sie in «Risikogebieten» leben? Mecklenburg-Vorpommern erliess sogar ein Einreiseverbot für Menschen aus sogenannten Hotspots, in denen die 7-Tage-Inzidenz – die Höhe der Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner – bei über 50 liegt. Das nicht nur von Söder beschworene «Unterhaken aller Beteiligten», der «wuchtige gesellschaftliche Aufschlag» könnte genau daran scheitern: dass es diese Gemeinsamkeit der Beteiligten bald nicht mehr geben wird, weil der Staat zur Spaltung ermuntert und Misstrauen organisiert. Vor einem heissen Herbst Und Unschärfen bleiben. In Garmisch-Partenkirchen wich unlängst die als Mass aller Dinge geltende Inzidenz je nach Zählweise deutlich ab. Das örtliche Gesundheitsamt und das Landesamt für Gesundheit kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Auf schwankenden Zahlen lässt sich indes kein stabiles juristisches Gerüst errichten. Wahr ist eben auch, dass laut dem Virologen Alexander Kekulé bereits Ende Mai die Intensivstationen für Corona-Patienten in Deutschland «sozusagen leer» waren; wahr ist, dass die Krankenkasse DAK-Gesundheit von einem gleichbleibenden Krankenstand im ersten Halbjahr 2020 im Vergleich mit dem ersten Halbjahr 2019 berichtet, und wahr ist, dass laut dem Chef der Berliner Universitätsklinik Charité seit der ersten Welle im März keine neuen Intensivfälle bis Mitte September in diesem Spital auftraten. Deutschland steht vor einem heissen Herbst. Die Massnahmen wider das Virus werden härter, die Debatten darüber schriller, die sozialen wie wirtschaftlichen Folgekosten höher. Völlig auszuschliessen ist es nicht, dass die Spitäler doch noch stark belastet werden und die Zahlen der Todesopfer in die Höhe schnellen. Weder Optimisten noch Pessimisten haben die Wahrheit gepachtet. Keine gute Zukunft aber wird eine Gesellschaft haben, die auf Misstrauen und Angst gebaut ist. Es wird eine Zeit kommen, da wird das Coronavirus nur noch Erinnerung sein. Hoffentlich werden wir uns dann nicht auch an eine Weggabelung erinnern, an der es noch möglich gewesen wäre, uns die Bürgertugend Zuversicht zu bewahren – auch und gerade durch Krisen hindurch. /«Der andere Blick» erscheint immer freitags./
125 Kommentare D. Z. vor 2 Tagen 64 Empfehlungen Aus einigen Jahrzehnten Distanz wird man sich rückblickend fragen, wie es nur dazu habe kommen können. Und einige Jüngere werden sich sicher sein, dass sie bei sowas garantiert nicht «mitgemacht» hätten. Wohl so sicher, wie die, welche noch bis vor ein paar Monaten glaubten, dass es nie mehr ein totalitäres System geben würde und falls doch, so täte man dagegen ankämpfen. Heute aber, da rufen genau solche nach der Polizei, welche die Maskenpflicht gefälligst durchzusetzen hat, bezeichnen alles als «Geschwurbel», was nicht der Linie der Regierung entspricht, und diffamieren selbst die erfahrensten Professoren als «Covidioten», falls diese kritische Fragen zur Verhältnismässigkeit stellen. Ja, die Situation führt vor Augen, wie rasch es gehen kann. Viel Zuversicht bleibt da nicht mehr übrig. 64 Empfehlungen A. E. vor 2 Tagen 55 Empfehlungen Ein für noch liberal gesinnte Geister wohltuend Realismus ausstrahlender Kommentar. Die Wahrheit ist: das Virus bedeutet an Fallzahlen gemessen nicht mehr Gefahren, als eine Grippewelle. Die Politik allerdings operiert mit Angstmache und schürt Hysterie. Was steckt dahinter? Wird Covid-19 benutzt, um aus freien Bürgern gute Befehlsempfänger eines sozialistischen Überwachungsstaates zu formen, die niemals widersprechen, sondern nur gehorchen? "Nudging" reichte wohl nicht mehr aus, um dem Bürger den Willen der Regierung aufzuzwingen? 55 Empfehlungen