Wie die Politik den Lockdown lieben lernte: Die Rückkehr zur Normalität soll unnötig hinausgezögert werden Eric Gujer 08.01.2021 NZZ NZZ Manche Politiker können sich ein Leben ohne Bevormundung der Bürger offenbar nicht mehr vorstellen. Sie möchten den Ausnahmezustand künstlich verlängern. «Privilegien» für Geimpfte? Nein, nur Grundrechte. Hendrik Schmidt / EPA Eric Gujer, Chefredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung». Der Corona-Winter verlangt uns allen Einschränkungen ab, die jetzt in Deutschland sogar noch verschärft worden sind. Zugleich ist ein Hoffnungsschimmer sichtbar. Auch wenn gerade der Beginn der Impfaktion verstolpert wird, steht erstmals ein wirksamer Schutz gegen das Virus zur Verfügung. Dass dies in wenigen Monaten möglich war, grenzt an ein Wunder. Es wäre die richtige Zeit für etwas Dankbarkeit, vielleicht sogar für Bewunderung, zu welchen Leistungen die moderne Medizin fähig ist. Was aber macht die Politik? Sie beginnt eine Diskussion, welche «Privilegien» Geimpfte beanspruchen dürfen. So überflüssig diese Debatte ist, so exemplarisch ist sie. Denn sie zeigt, welchen Stellenwert Freiheit in Deutschland hat, und sie verrät, dass nicht wenige Politiker im Bürger mehr Untertan als Souverän sehen. Den Anfang machte der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU). Er kritisierte in einem Interview mit «Bild am Sonntag», dass Airlines und andere Unternehmen Geimpfte bevorzugen könnten. Dies bedeute einen indirekten Impfzwang. Deutschland zählt derzeit auf 100 Einwohner eine halbe Impfdosis Auch die sozialdemokratische Justizministerin Christine Lambrecht hält den privilegierten Zugang zu Lokalen und Verkehrsmitteln für falsch. Die SPD-Bundestagsfraktion will prüfen, wie sich mit einem Gesetz verhindern lässt, dass etwa Restaurants nur Gäste mit Impfschutz bedienen. *Auch Wirte können selber denken* Alle warnen vor einer Spaltung der Gesellschaft. Nur gemeinsam könne man die Krise überwinden, versichern die Politiker in schönster Einigkeit. Was sie aber meinen, ist etwas ganz anderes: Sie wollen ihre Allmacht nicht preisgeben, an die sie sich in der Corona-Krise gewöhnt haben. Bund und Länder schlossen Schulen und Geschäfte, verhängten Sperrstunden oder schickten Reisende in Quarantäne. Obendrauf kommen nun die willkürliche Verringerung des Bewegungsradius auf 15 Kilometer und eine – man kann es nicht anders sagen – asoziale Beschränkung von Kontakten auf eine Person. Die USA haben weltweit die meisten Corona-Impfdosen verabreicht Dieser in Demokratien eigentlich unvorstellbare totale Zugriff auf eine Gesellschaft scheint einigen zu Kopfe gestiegen zu sein. So mancher Minister oder Abgeordnete vermag sich offenbar gar nicht mehr vorzustellen, wie Menschen ohne Bevormundung leben können. Genau dies sieht das Bürgerliche Gesetzbuch eigentlich vor: dass sich Unternehmen im Rahmen der Vertragsfreiheit aussuchen können, mit wem sie Geschäfte machen. Ein Restaurantbesitzer soll selbst festlegen, auf welche Weise er seine Gäste bewirtet. Er braucht dafür keinen Innenminister und keine Justizministerin. Diese Vertragsfreiheit bedeutet auch keinen versteckten Impfzwang – genauso wenig wie die Entscheidung, nur vegetarische Speisen anzubieten, einen «Veggie-Zwang» bedeutet. Wem das Angebot nicht passt, sucht sich eben eine Würstchenbude. Die Marktwirtschaft befriedigt auch die ausgefallensten Bedürfnisse, sogar den Hunger auf Currywurst. *Warum hat es die Freiheit in Deutschland bloss so schwer?* Zu einem selbstbestimmten Leben gehört, dass jeder die Folgen seines Impfstatus selbst abschätzt, so wie jeder die meisten Lebensrisiken selbst tragen muss. Die Erwartung, der Sozialstaat treffe «Daseinsvorsorge» für alle nur denkbaren Lagen, ist zwar tief in der deutschen Psyche verankert. Der Ausnahmezustand der Seuche macht jedoch deutlich, dass dies nur eingeschränkt möglich ist. Wie Ausbildung, Einkommen, Partnerwahl und sogar der Gesundheitszustand wesentlich von individuellen Entscheidungen abhängen, kann der Staat auch nicht in der Pandemie alle Wechselfälle des Schicksals ausgleichen. Gerecht ist das nicht. Gerade in den existenziellen Dingen gehört Ungleichheit zu den Grundkonstanten des Lebens. Hinter der Debatte um die «Impfprivilegien» verbergen sich unterschiedliche Konzeptionen von Freiheit. Haben Menschen das unveräusserliche Recht, ihr Leben mit allen Risiken selbst zu gestalten, sind daher Einschränkungen nur so weit legitim, als sie die Freiheit der anderen sichern? Oder ist dieses Recht nur geborgt von «Vater Staat», der die Freiheit beschneiden kann, sofern er im Gegenzug als Lebensversicherung fungiert? Letztere Vorstellung ist in Deutschland mit seiner Staatsgläubigkeit sehr verbreitet – nicht nur in Corona-Zeiten, in diesen allerdings besonders ausgeprägt. Es beginnt mit der Sprache, die eigentlich Selbstverständliches zum Privileg erklärt. Norbert Röttgen hat in der «Welt» darauf hingewiesen: «Wenn man das Sonderrechte nennt, dann zeigt das, dass im Denken etwas verrutscht ist; dass man die Situation der Einschränkung für den Normalfall hält und die Situation, dass der Bürger frei ist, für den Sonderstatus.» *Grundrechte sind keine Privilegien* Die Möglichkeit, sich zu verwirklichen, ist ein Grundrecht. Dass jemand diese Möglichkeit partiell vorenthalten wird, weil er nicht geimpft ist, gibt dem Staat nicht die Legitimation, anderen Bürgern die Ausübung ihrer Grundrechte zu verwehren. Heribert Prantl hat das in der «Süddeutschen Zeitung» auf eine bündige Formel gebracht: «Grundrechte sind keine Privilegien, die man sich erst durch ein bestimmtes Handeln oder durch ein bestimmtes Verhalten verdienen kann oder verdienen muss. Grundrechte sind keine Belohnung, keine Gratifikation, kein Bonus, kein 13. Monatsgehalt. Sie sind einfach da.» Mit Covid-19 hat sich die Balance zwischen Individuum und Kollektiv markant zugunsten der vom Staat usurpierten Gemeinschaft verändert. Diese Verschiebung versuchte ich im Frühjahr mit dem Begriff des Seuchen-Sozialismus zu beschreiben. Unter dem Vorwand der Pandemie-Bekämpfung beansprucht das Kollektiv Rechte, die vor der Pandemie dem Einzelnen zustanden. Die Sorge, dass sich die Entwicklung nur schwer umkehren lässt, selbst wenn die Gesellschaft allmählich zur Normalität zurückkehrt, bestätigt sich. Die Diskussion um die angeblichen Impfprivilegien zeigt dies eindrücklich. Zumal bereits daran gearbeitet wird, die mit Corona üblich gewordenen staatlichen Sonderrechte auch auf andere Politikbereiche auszudehnen. So wagte der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach in der «Welt» den schrägen Vergleich, dass es eine Impfung gegen CO2 niemals geben werde. Daraus leitete er ab: «Somit benötigen wir Massnahmen zur Bewältigung des Klimawandels, die analog zu den Einschränkungen der persönlichen Freiheit in der Pandemie-Bekämpfung sind.» Zwar nimmt sogar die SPD ihren Bundestagsabgeordneten Lauterbach nur eingeschränkt ernst, er geniesst die Privilegien eines Hofnarren. Aber auch die Sozialdemokratie sollte es nicht achselzuckend akzeptieren, wenn in ihrem Namen eine flächendeckende und dauerhafte Beschneidung der individuellen Freiheit gefordert wird. *Mit dem zögerlichen Impfbeginn wird Vertrauen verspielt* Wer will, findet immer einen Grund, um die Freiheit einzuschränken: die Benachteiligung einer Nation und die Nichtachtung ihrer Identität genauso wie die Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Auf diese Weise wurden in Deutschland und Russland barbarische Diktaturen gerechtfertigt. Auch wenn Berlin nicht Weimar und Lauterbach nicht Stalin ist, sollte die Geschichte des 20. Jahrhunderts Grund genug sein, mit der Forderung nach dem Entzug von Grundrechten vorsichtig umzugehen. Auch bei den Grünen gibt es Stimmen, die im Bürger zuvorderst den Untertanen sehen. So erklärte Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank, erst müssten 60 bis 70 Prozent der Menschen geimpft sein, um Herdenimmunität zu erreichen. Nur dann sei es an der Zeit, wieder alle Grundrechte in Kraft zu setzen. Solche Wortmeldungen wirken zynisch, wenn man bedenkt, dass mit dem langsamen Impfbeginn viel Vertrauen verspielt wird. Dieselben Staatsorgane, die bei der Beschaffung von Impfdosen nur gebremsten Ehrgeiz zeigen, wollen ihr Versagen zum Vorwand nehmen, um Freiheitsrechte länger als unabdingbar auszusetzen. Wenn das nicht Kalkül ist, dann doch mindestens Gedankenlosigkeit von Personen, die selbst in einer beispiellosen Gesundheitskrise ihr politisches Süppchen kochen, als sei nichts geschehen.
A. E. vor 4 Tagen 117 Empfehlungen In der Medizin gibt es die Triage. Eigentlich gibt es sie überall. Sie besagt ja nur, dass man bei begrenzten Ressource dort seine Prioritäten setzt, wo man die höchste Wirkung erzielt. Da könnte man jetzt denken, fast überall, also weltweit in den Industrieländern sterben die meisten Menschen (>50%) in den Pflegeheimen, also konzentriert man sich darauf, diese zu schützen. Aber nein, dass macht man natürlich nicht, man versucht lieber das kenternde Schiff zu retten, in dem man das Meer ausschöpft. Der Lockdown ist die dümmste Strategie für einen derart infektiösen Erreger, man wird ihn nicht eindämmen. Man wird von Lockdown zu Lockdown schreiten. Er ist die Entschuldigung dafür, nichts zu machen, keine Altersheime zu schützen, keine Spitalkapazitäten aufzubauen, kein Pflegepersonal auszubilden. Nichts wird man tun, denn man kann zum Lockdown greifen und vor Alternativen wegrennen. Ralf Vormbaum vor 4 Tagen 110 Empfehlungen Bekanntlich geht der Krug solang zum Brunnen, bis er bricht. Die Politik scheint sich in eine Neuauflage der totalen Bürokratisierung inklusive Planwirtschaft einüben zu wollen, wie sie schon im ehemaligen Ostblock etabliert wurde. Die Corona-Maßnahmen entspringen daher nicht medizinischer, sprich epidemiologischer Notwendigkeit, sondern der Gewöhnung des Bürgers an staatliche Gängelung, die man dann, mit Verweis auf den Klimawandel, immer weiter fortzusetzen gedenkt. Hinter der neuen politischen "Kultur" steht ein verändertes Menschen- und damit verbunden Gesellschaftsbild. Der Staat wird zum Souverän und das Volk zum Untertan. Für die Preisgabe der Freiheitsrechte garantiert der Staat dem Bürger scheinbare Sicherheit, zumindest propagandistisch! Die an der Utopie einer klimaneutralen, virusfreien Welt orientierte Politik speist sich dabei aus Ideologie und nicht aus rationalem Handeln, denn alles wirtschaftliche Handeln, insbesondere in einer globalen Wirtschaft, zeitigt eben auch negative Folgen. Der Traum der schönen neuen Welt, könnte also schnell zum wahren Alptraum werden, wenn die wirtschaftlichen Verwerfungen durch die staatlichen Eingriffe in den Markt den finanziellen Kollaps vieler Staaten nach sich ziehen wird. Wie am Ostblock gut zu sehen war, verursacht eine radikal bürokratisierte Wirtschaft auf Dauer mehr Schäden als eine relativ freie Marktwirtschaft. Leider werden die Bürger das neuerliche politische "Experiment" ausbaden müssen.