Corona-Krise und Pest: Pandemien bringen den Staat an die Grenzen seiner Möglichkeiten Volker Reinhardt 11.11.2020 NZZ Corona-Krise und Pest: Pandemien bringen den Staat an die Grenzen seiner Möglichkeiten. Aber er will keine Schwäche zeigen. Und stärkt deshalb in Krisen seine Macht Keine Regierung kann zugeben, dass sie hilflos ist. Etwas tun, um jeden Preis, lautet dann die Devise. Wenn der Staat der Bevölkerung keine Hilfe mehr bieten kann, verliert Herrschaft ihre Grundlage. Das wusste auch der Doge in der Pestepidemie von 1576 in Venedig. Bild von Alexandre Hesse (1832). Leemage Der direkte Vergleich zwischen den Pestkrisen Alteuropas und dem Corona-Jahr 2020 hinkt in vieler Hinsicht so stark, dass er bei jedem einzelnen Schritt einzustürzen droht. Doch eine Ähnlichkeit sticht ins Auge: die Rolle der Obrigkeiten, modern ausgedrückt: des Staates, der sich zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der verheerenden Pandemien, erst sehr allmählich entwickelte und nicht im Entferntesten über die ideologischen Ressourcen, das Macht- und Erzwingungspotenzial der Gegenwart gebot. Trotzdem zeichnen sich hier Analogien ab, die vielleicht für die 2020er Jahre und folgende nützliche Aufschlüsse bieten können. Der tödliche Siegeszug der Pest, die mit genuesischen Schiffen im Oktober 1347 in Sizilien ankam, sich von dort ebenfalls auf dem Seeweg nach Pisa, Genua und Marseille ausbreitete und von diesen Brückenköpfen aus in den nachfolgenden Monaten und Jahren fast ganz Europa überzog, erzeugte ein Klima extremer Verzweiflung und Hilflosigkeit. Die drei «Expertengruppen» Theologen, Astrologen und Mediziner waren sich im Grossen und Ganzen darin einig, dass die Seuche von einer ungünstigen Planetenkonjunktion hervorgebracht wurde, die wiederum giftige Luftschwaden auf die Erde sandte, an deren tödlichem Hauch die Menschen in Massen zugrunde gingen. Die Ratschläge der Spezialisten, wie man diesem Verhängnis entgehen könnte, fielen dementsprechend bescheiden aus: wohlriechende Essenzen einatmen, strenge, fleischarme Diät halten und positiv denken, auf keinen Fall aber über die herannahende Katastrophe reflektieren. Das einzig erfolgversprechende Rezept wurde eher hinter vorgehaltener Hand vorgebracht: so schnell wie möglich aus den verseuchten Metropolen in die ländliche Abgeschiedenheit der Villen fliehen und dort so lange ausharren, bis das Schlimmste vorbei ist. Tödliche Flöhe Genauso machen es die smarten jungen Damen und Herren in Giovanni Boccaccios Novellensammlung «Das Dekameron» – verschwinden, vergessen, verdrängen. Doch eine solche Flucht galt den Regierenden und den Humanisten, den Moralerziehern der Pestzeit, als feige Flucht vor der Verantwortung als Familienvater und Staatsbürger – was sie nicht daran hinderte, diese rettende Isolation in eigener Sache trotzdem zu praktizieren. So ist von Papst Clemens VI. überliefert, dass er in seinem riesenhaften Palast in Avignon niemanden ausser vertraute Diener zu sich vorliess und zudem seine Räumlichkeiten so gründlich wie möglich ausräucherte, was die tödlichen Flöhe, die damals noch niemand verantwortlich machte, und ihre Überträger, die Ratten, wahrscheinlich ebenso fernhielt wie bereits infizierte Menschen. De facto aber waren die Mächtigen im Angesicht einer Seuche, die das Leben aller akut bedrohte, hilflos. Damit aber war nicht nur ihre Position, sondern auch ihre Funktion und, für sie noch viel gravierender, ihre Legitimation aufs Höchste bedroht. Herrschaft rechtfertigt sich zu allen Zeiten, wenngleich aus ganz unterschiedlichen Quellen, durch den daraus entspringenden Vorteil für die Beherrschten, auch wenn sie sich jahrhundertelang im Eigeninteresse schmaler Oligarchien entwickelt hat. Ohne einen solchen vorzeigbaren Nutzeffekt für das «bonum commune», das Gemeinwohl, verlor Macht ihre Grundlage und wurde äusserst verwundbar und damit angreifbar, bestreitbar, ersetzbar. Das zeigte sich lange vor der Pest in grossen Hungerkrisen; wenn die Obrigkeiten dem Mangel an Getreide, der zu Brotteuerung und -knappheit führte, nicht abzuhelfen vermochten, betrachteten die Massen den Herrschaftspakt als verletzt und aufgelöst und nahmen im Namen des natürlichen Rechts auf Überleben die Sache selbst in die Hand, das heisst, sie plünderten Kornhäuser und Bäckerläden. Nur keine Schwäche eingestehen Daraus folgte ein eherner Grundsatz, an den sich alle Obrigkeiten bis heute strikt zu halten haben: die eigene Rat- und Hilflosigkeit um keinen Preis zuzugeben, sondern im Gegenteil in Katastrophenzeiten den Ausstoss von Verordnungen, Dekreten, Anweisungen und Strafandrohungen um ein Vielfaches zu vermehren. So lief und läuft der gesetzgeberische Apparat je heisser, desto finsterer sich die Ansteckungs- und Sterbelage entwickelte. Anders ausgedrückt: Aktionismus um jeden Preis war und ist die Parole des Tages, nur keine Schwäche eingestehen, Handlungsbereitschaft unter Beweis stellen, Fürsorge zelebrieren, Erfolge vorzeigen. Mit einer Phasenverschiebung von ein paar Monaten kam die Pest im Frühjahr 1348 auch der Grosshandelsmetropole Venedig immer näher. Wie das Beispiel Mailand zeigte, wo die brutale Abschottungspolitik des Stadtherrn Luchino Visconti die Seuche fernhielt, hätte die einzige Chance auf Rettung darin bestanden, den Schiffsverkehr mit der Levante und bereits verseuchten Teilen Europas sofort zu unterbinden. Diese Absperrung aber hätte die wirtschaftlichen Interessen der adeligen Führungsschicht schwer geschädigt und blieb daher monatelang aus. Stattdessen überboten sich die regierenden Kreise darin, das Alltagsleben der Venezianerinnen und Venezianer bis in die letzten Einzelheiten hinein zu reglementieren und zu schikanieren. So sollte der nächtliche Weinverkauf strikt unterbunden werden, obwohl für niemanden einsichtig war, was das mit der Ausbreitung der Infektion zu tun hatte; darüber hinaus wurden allzu laute Trauerkundgebungen und allzu düstere Trauerkleidung verboten, um die öffentliche Stimmung nicht weiter sinken zu lassen – als ob das angesichts der Leichenberge auf den Barken etwas geändert hätte. Treu gegen Gott und Menschen Besonders streng wurde das Betteln mit Pestbezug verboten, speziell der Leichendiebstahl zwecks Erzeugung von Mitleid und Erhöhung des Almosenertrags. Extrem kontraproduktiv war das scheinbar grosszügige Angebot an die Armen, die man als Superspreader verdächtigte, sich in die Obhut von Hospitälern auf abgeschotteten Nachbarinselchen zu begeben und dort auch ihre Angehörigen kostenlos bestatten zu lassen. Schnell machte das Gerücht die Runde, dass die Herrschenden die unliebsamen Ansteckungsträger dort erbarmungslos verhungern liessen, so dass dieser «Sozialdienst» wie die Pest selbst gemieden wurde. Alle diese Massnahmen sollten die regierenden Kreise als ihrer Pflichten gegenüber Gott und den Menschen bewusst und treu, als handlungsfähig auf der Höhe der Notzeit und damit ihrer Aufgabe voll und ganz gerecht ausweisen. Doch das gelang nicht. Wenige Jahre später versuchte der wirtschaftlich schwer geschädigte Mittelstand, das verhasste Regime der Grosshändler durch einen Staatsstreich zu stürzen und selbst an die Macht zu gelangen – vergeblich. Trotzreaktionen und Widerstandshandlungen gegen obrigkeitliche Pestverfügungen waren 1348 und 1349 überall die Regel. So nahm Papst Clemens VI. die Juden gegen den irrsinnigen Vorwurf, sie hätten die Pest verbreitet, in Schutz und verbot Pogrome bei schwersten Kirchenstrafen – die Massenmorde an der unschuldigen religiösen Minderheit dürfte das erst recht angefacht haben. Derselbe Pontifex untersagte die Züge der Geissler, die sich nach strengen Bussriten öffentlich blutig schlugen und dadurch das drohende Gottesgericht in letzter Minute zu verhindern suchten – solche Prozessionen florierten nach ihrem Verbot erst recht. Postpubertäre Mutproben Aus all diesen Phänomenen lässt sich eine grosse Gemeinsamkeit ableiten: Die Herrschenden hatten keinerlei Einfluss auf das Sozialverhalten breiter Schichten. Diese Ohnmacht aber versuchten sie ebenso wie die Hilflosigkeit gegenüber der Pandemie durch hektisches Agieren um jeden Preis zu überspielen. Damit liegen die Ähnlichkeiten zur Corona-Situation von 2020 zutage. Niemand wird bestreiten, dass gewisse Basis-Sicherheitsregeln wie Handhygiene, Abstandhalten, Verzicht auf Bussi-Bussi-Bräuche und das Tragen von Masken, die im Frühjahr 2020 eingeführt wurden, vernünftig und angebracht sind. Doch zugleich zeichnet sich immer deutlicher ab, dass der Staat wie 1348 an Grenzen stösst. Er kann weiterhin die Regeln für den öffentlichen Raum verschärfen, wie die venezianischen Adeligen auf dem Höhepunkt der Krise, und deren Einhaltung auch effizienter als damals, gleichwohl niemals flächendeckend, kontrollieren. Doch zeichnet sich wie in Pestzeiten ab, dass er dadurch wütende Gegenreaktionen auslöst, nach dem Muster: Was ausserhalb der eigenen vier Wände verboten ist, wird innerhalb dieser geschützten Privatsphäre umso hemmungsloser nachgeholt, bis hin zu postpubertären Mutproben aller Art. Einen Big-Brother-Überwachungsstaat, der durch das Schlüsselloch schnüffelt, kann niemand wollen, geschweige denn totalitären Terror wie in der Nazizeit und unter dem Stalinismus. So stellt sich die Frage, ob der Staat, der schliesslich von demokratischem Konsens getragen wird, nicht heute endlich zugeben kann, was für frühneuzeitliche Oligarchien unaussprechlich war: dass er seine Ressourcen ausgeschöpft hat, vielleicht sogar zu weit, und dass es jetzt auf die Verantwortung der Zivilgesellschaft und die Vernunft des Individuums ankommt. Das wird schon jetzt von allen Seiten der Öffentlichkeit mantramässig gepredigt, kommt aber bei den Adressaten offensichtlich nicht an. Vielleicht würde das ehrliche Eingeständnis der obersten Funktionsträger und der diversen Expertengruppen, mit ihrem Handeln ihre Spielräume ausgereizt zu haben, die Akzeptanz der unabdingbaren Sicherheitsregeln fördern. *Volker Reinhardt *ist Professor für allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Freiburg i. Ü. Im Januar 2021 erscheint bei C. H. Beck sein neues Buch, «Die Macht der Seuche. Wie die Grosse Pest die Welt veränderte, 1347–1353».
Urs Keiser vor einem Tag 18 Empfehlungen Ein guter Artikel, der es auf den Punkt bringt, was die Handlungen der Obrigkeit anbelangt. Es wird verordnet ohne genau zu wissen was es nützt, Kollateralschäden werden ausgeblendet. Hinzuzufügen ist noch zum Vergleich mit der Pest zur heutigen COVID-19 Pandemie: - die Sterblichkeitsrate ist wesentlich tiefer - das Gesundheitswesen in Europa ist wesentlich besser ausgebaut - die Welt ist markant dichter besiedelt - die Reisetätigkeit ist viel höher Das stellt die Massnahmen der Obrigkeit noch mehr in Frage. Peter Müller vor einem Tag 17 Empfehlungen «Die Ratschläge der Spezialisten, wie man diesem Verhängnis entgehen könnte, fielen dementsprechend bescheiden aus: wohlriechende Essenzen einatmen, strenge, fleischarme Diät halten und positiv denken, auf keinen Fall aber über die herannahende Katastrophe reflektieren.» Viel mehr fällt den «Spezialisten» heute auch nicht ein. Das Allheilmittel heute heißt «Maske». Je höher die Fallzahlen, je mehr Maske wird angeordnet. Dabei zeigt sich, dass die Maske so gut wie keinen Einluß auf das Pandemiegeschehen hat. Diese Hilflosigkeit wir vom Volk übernommen. Auch sie möchten irgendetwas tun, um zu helfen. Da kommt die Maske gerade recht. Insbesondere, weil sie auch die anderen schützen soll, viel mehr noch, als einen selbst. Das gibt ein gutes Gefühl, zu glauben, etwas zur Bekämpfung der Pandemie beitragen zu können und andere Menschen «retten» zu können. Das ist aber auch schon alles, was die Maske bewirken kann. Genau das lenkt aber von den eigentlichen Gefahrenherden ab. Wie damals bei der Pest. Also verfällt man in blinden Aktionismus und schließt Restaurants, Fitnesscenter und vieles mehr. Viele Menschen haben schon lange keine Angst mehr vor dem Virus und verlagern ihre sozialen Kontakte eben auf private Bereiche. Was die Infektionszahlen aber sichr nicht verringert. Sie sind aber aus dem öffentlichen Fokus und ihrer Nachverfolgung.