Die Medien haben politischen Aktivismus und überzogene Massnahmen begünstigt Stephan Russ-Mohl 10.01.2021 NZZ NZZ Es gab selten ein derart dominantes Medienthema wie die Corona-Krise. Die Berichterstattung kam einem Panikorchester in der Endlosschlaufe gleich. Corona beschäftigt die Menschen aus der ganzen Welt - hier eine Zeitungsleserin in Bangladesh, im März 2020. Monirul Alam / EPA Das Coronavirus, seine Mutationen, das Drama um die Impfstoffbeschaffung und -verteilung sowie die verlängerten und verschärften Lockdowns halten uns weiter in Atem. Es gibt nur einen blinden Fleck: welche Rolle der Journalismus, zuvörderst die Leitmedien und das öffentlichrechtliche Fernsehen, im ersten Pandemiejahr gespielt hat. Das wurde zu wenig ausgeleuchtet. Stattdessen wurden wir fast täglich mit Informationen dazu überschüttet, wie sich in den sozialen Netzwerken Desinformation und Verschwörungstheorien ausbreiten. Zwar hat die Art und Weise, wie Leitmedien über die Corona-Krise berichten, nicht die Pandemie ausgelöst. Sie hat aber ganz gewiss die Erwartung mit erzeugt, eine Pandemie sei durch politische Massnahmen «kontrollierbar», und sie hat damit die angeblich «alternativlosen» politischen Reaktionen auf Covid-19 in den westlichen Demokratien mitgeprägt. Herbeigeschriebene Schockstarre Man braucht nur ein paar gesicherte Erkenntnisse der Medienforschung zusammenzunehmen, um diese These nicht ganz abwegig zu finden. Denn Medien sind mächtig, darin ist sich die Wirkungsforschung seit Jahrzehnten einig – auch wenn Journalisten das zumeist nicht wahrhaben wollen. Im Frühjahr 2020 absorbierte die Corona-Pandemie innert weniger Tage die mediale Aufmerksamkeit. Es gab Schreckensstatistiken von Infizierten und Toten, dazu rund um die Uhr TV-Bilder von den Leichentransporten in Bergamo oder den Kühlhäusern, in denen Verstorbene in New York zwischengelagert wurden. Der Medienhype liess eine Art Schockstarre entstehen und stellte alles in den Schatten, was wir nach Kriegsende an monothematischer Berichterstattung kannten. Man kann sich ausmalen, wie die Überdosis Corona-News bei Mediennutzern Unsicherheit, Angst, ja Panik erzeugt hat – und wie sich dies nicht zuletzt in steigender Nachfrage nach Corona-News niederschlug. Medienprofis können heutzutage in Echtzeit messen, welche Nachrichten gefragt sind. In Corona-Zeiten, so haben in den letzten Monaten Journalisten immer wieder versichert, hat sich das Nutzerinteresse fast ausschliesslich auf die Pandemie fokussiert. Diese Nachfrage wurde nach Kräften bedient, und sie hat eine weitere Nachfrage erzeugt. Wobei sich Journalisten auch stark an dem orientieren, was andere Journalisten machen – solche «Kollegenorientierung» ist seit Jahrzehnten nachgewiesen. Sozialpsychologen und Verhaltensökonomen würden sie als Herdentrieb bezeichnen. Jedenfalls wird plausibel, weshalb die Corona-Berichterstattung im Frühjahr 2020 plötzlich hochschnellte und wie innerhalb weniger Tage die Trommler im Covid-19-Panik-Orchester die Tonlage vorgaben. Für die Schweiz registrierte das Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft (Fög) der Universität Zürich, dass sich an einzelnen Tagen bis zu 70 Prozent der Berichterstattung um Covid-19 drehte. In Deutschland bewegte sich im März und April der Anteil der Corona-News in den beiden Hauptnachrichtensendungen von ARD und ZDF ebenfalls zwischen 60 und 75 Prozent. Präferenz für Scharfmacher Zum Vergleich: Beiträge zur Klimadebatte machten in der Schweiz selbst in Spitzenzeiten kaum je mehr als 10 Prozent der gesamten Berichterstattung aus. Auf diese «Verengung der Welt» machten auch Dennis Gräf und Martin Hennig von der Universität Passau aufmerksam. Die Forscher untersuchten die Sondersendungen zu Corona, die jeweils zur besten Sendezeit von ARD und ZDF ausgestrahlt wurden. Über das Jahr hinweg gab es davon 134, bis zum Abschluss der Forschungsarbeit im Juni waren es 93 innerhalb von 15 Wochen. Damit ist, wie die Forscher festhalten, aus dem Konzept von Sondersendungen eine «neue Normalität» entstanden. Die «Engführung» entspreche «einer Ausblendung aller anderen gesellschaftlich relevanten Gemengelagen». Noch krasser ist das Bild bei den Talkshows. 66 von insgesamt 106 solcher Sendungen bei ARD und ZDF beschäftigten sich 2020 mit der Corona-Pandemie. Die US-Wahlen lagen mit 8 Sendungen weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz. Unter den Gästen belegten fünf Politiker der Regierungsparteien die vorderen Plätze – je 14 Auftritte hatten allein der Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und der Scharfmacher unter den Pandemie-Wellenreitern, der SPD-Politiker Karl Lauterbach. Je härter die Forderungen, desto mehr Medienpräsenz: SPD-Politiker Karl Lauterbach bei einem Pressetermin im Bundestag. Christian Spicker / Imago Dass im Vergleich dazu sachkompetente Experten nicht ganz so wichtig sind, zeigt sich an Auftritten der deutschen Starvirologen: Hendrik Streeck und Alexander Kekulé waren nur sieben Mal dabei, Christian Drosten sogar nur vier Mal. Wir haben es fraglos mit einem Berichterstattungs-Overkill zu tun. Quantität ist in eine neue Qualität umgeschlagen. Zwar funktioniert so Aufmerksamkeitsökonomie. Aber das Problem dabei ist eben, dass Medienprofis uns über den Weltlauf informieren sollten – und offenbar nicht sehen wollen, was sie mit ihrem Tunnelblick anrichten. Denn Politik agiert nicht im luftleeren Raum. So wie die Medien liefern, was ihre Nutzer wollen, kümmern sich Politiker um ihre Wähler. Diese wiederum laufen, vom Virus und von den Medien eingeschüchtert, eher dem strammen Markus Söder hinterher als dem vergleichsweise zaudernden Politikertyp eines Armin Laschet. Politiker im Überbietungsmodus Die monomane Corona-Berichterstattung signalisierte Entscheidungsbedarf. Die Politiker wussten noch nicht, wie sie handeln sollten, weil es an verlässlicher Information fehlte. Gleichwohl mussten sie Entschlossenheit demonstrieren, und sie fütterten die Medien in einem Profilierungswettbewerb, der schnell zur Bevormundungs-Überbietungskonkurrenz ausartete. Regierungen verfügen obendrein über mächtige PR-Apparate. So beeinflussen sie die Tonlage der Berichterstattung und stellen ihr Handeln als «alternativlos» dar. Damit war der Weg nicht nur zu den vernünftigen AHA-Regeln (Abstand, Hygiene, Alltagsmaske) geebnet, sondern auch für die Lockdowns mit ihren oft unverhältnismässigen Ungereimtheiten. Der Journalismus selbst hat der Flut von PR- und Propagandameldungen – zum Beispiel im Fall von China, wo in Wuhan alles anfing – nur wenig entgegenzusetzen. Denn die Wissenschafts- und Medienredaktionen, auf die es ankäme, sind über Jahre hinweg ausgedünnt oder sogar ganz wegrationalisiert worden. So können in den Redaktionen allenfalls Einzelkämpfer auf die PR-Trupps der anderen Seite reagieren, aber sie können ihnen kaum Paroli bieten. Statt Statistiken einzuordnen, bombardieren sie uns tagtäglich mit Zahlen zu Corona-Infizierten und -Toten. Letztere sind wenig aussagekräftig, solange wir nicht erfahren, ob Menschen /am/ oder /mit/ dem Coronavirus starben, und beim internationalen Vergleich solcher Statistiken ist das zumeist offen. Wer nur Tote oder Infizierte nennt, ohne die Genesenen sowie die Gesamtzahl der Tests anzuführen, ist, so Roland Schatz vom Zürcher Forschungsinstitut Media Tenor, «auf dem journalistischen Niveau eines Sportjournalisten, der nach dem Halbfinalspiel Barcelona - Bayern nur die Tore nennt, die Barcelona geschossen hat». Weitaus weniger eindrucksvoll, aber als Indikatoren brauchbarer, um die Dynamik der Pandemie zu verstehen, sind Daten zur Übersterblichkeit und Statistiken, welche die Verstorbenen in Bezug setzen zur jeweiligen Bevölkerungsgrundgesamtheit. Wer solche Statistiken in Abständen von ein paar Wochen genauer studiert, mag allerdings den Eindruck gewinnen, dass oft der Zufall im Spiel ist, wenn Superspreader wüten und neue Infektions-Hotspots entstehen. Zwar verursacht die Politik mit ihren Eindämmungsmassnahmen riesige Kollateralschäden, sie vermag dagegen die Ausbreitung des Virus nur sehr bedingt zu kontrollieren. Angst, angesteckt zu werden, haben wohl fast alle von uns bekommen. Über Ansteckungsrisiken war indes wenig zu erfahren. Hätten einige Medien schon vor Jahren mit ihren kühnen Bedrohungsszenarien recht behalten, gäbe es indes gar kein Infektionsrisiko mehr: Die Schweizer und die Deutschen wären dann nämlich bereits wegen Rinderwahn oder spätestens Sars ausgestorben. *Stephan Russ-Mohl* ist emeritierter Professor für Journalistik und Medienmanagement an der Universität Lugano. Von ihm herausgegeben und soeben erschienen ist der Band «Streitlust und Streitkunst. Diskurs als Essenz der Demokratie» (Herbert-von-Halem-Verlag, Köln).
Kurt Weiss vor einem Tag 114 Empfehlungen In meinem langen Leben habe ich noch nie eine derart hysterische, panische Medienoffensive erlebt, wie die nun bald einjährige Corona-Berichterstattung. Presse, Radio und Fernsehen betreiben eine unverantwortliche Angstmacherei. Mit der löblichen Ausnahme von einigen Redakteuren, Journalisten und Gastkommentatoren der NZZ fehlt unseren Medienprofis der Sinn für Verhältnismässigkeit, Einordnung und Objektivität. Die Gefahr der Pandemie misst sich nicht an den Fallzahlen sondern an der Zahl der Hospitalisierungen. Hospitalisiert im Zeitraum vom 24.2.2020 bis 8.1.2021 wurden laut BAG 19'787 Personen. Die Zahl mag in einer oberflächlichen Betrachtung hoch erscheinen, entspricht aber nur 0,23% der ständigen Schweizer Bevölkerung (8,655 Mio.). Mathematisch richtig wäre also auch die Aussage, dass der Coronavirus für 99,77% der Schweizer Bevölkerung ungefährlich ist. Eine solche sachlich korrekte Headline wäre im heutigen Medienhype mangels Dramatik wohl nicht erwünscht. Urs Maurer vor einem Tag 99 Empfehlungen Ja, ich habe in dieser Coronazeit viel gelernt. Ich weiss jetzt, wie autoritäre Gesellschaften und Diktaturen entstanden sind bzw. weiter entstehen werden. Die Medien spielen (ein dummes Wort, ich weiss) eine nicht zu unterschätzende Rolle.