Corona entlarvt so manchen Mißstand: Über die Torheit der Bürger und das Versagen der Politik René Scheu 23.12.2020 NZZ NZZ Der Corona-Alltag ist voller Widersprüche. Die Wissenschaft hilft auch nicht immer weiter. Und die Eidgenossen sind ziemlich ratlos. Sie ärgern sich über die Bevormundung durch die Politik – und wünschen sich doch nichts sehnlicher als genau das. Warum nur? Das erste Corona-Jahr ist bald vorbei, und die Lage ist heute ähnlich unübersichtlich wie beim Ausbruch der Pandemie. Das Virus hält uns weiter zum Narren und diktiert den Gang unseres Lebens. Wäre die Situation nicht so belastend, so möchte man mit Goethes Faust ausrufen: «Da steh’ ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor!» Belastend ist die Situation nicht bloss aufgrund der Toten – bisher sind in der Schweiz über 6000 Menschen gestorben, die mit Sars-CoV-2 infiziert waren. Belastend ist die Situation auch deshalb, weil zwei menschliche Eigenschaften kurz vor dem Abdanken stehen: der gesunde Menschenverstand und die Eigenverantwortung. Was gegenwärtig einzig zählt, ist das staatliche Handeln ex cathedra, das über uns kommt wie ein Ausdruck höherer Gewalt. Zwei Arten von Unheil Die eidgenössische Landesregierung stochert wie andere auch im Nebel herum, aber wenigstens trifft sie – so denken viele – Entscheidungen, an die man sich halten kann. Das ist eine Lektion der letzten Monate: Nichts ist für Menschen schwerer auszuhalten als bloss provisorische Gewissheiten, die schliesslich in eine grosse quälende Ungewissheit umschlagen. Dann doch lieber die klare Gewissheit eines brutalen Einschnitts in die Grundfreiheiten der Bürger als das gesellschaftliche Prinzip von Versuch und Irrtum in der gesellschaftlichen Praxis. Hauptsache, es geschieht etwas – über Risiken und Nebenwirkungen denken wir bitte wieder nach, wenn wir irgendwann klarer sehen. Das Problem dabei: Wir sehen bloss das Unheil, das wir vermeiden, aber nicht jenes, das wir dadurch erst verursachen. Seit Monaten werden viele Zahlen herumgeboten, aber eigentlich gibt es in der Corona-Pandemie eine wirklich harte Grösse: die Infection Fatality Rate (IFR), zu Deutsch: die Infektionssterblichkeitsrate, also der Prozentsatz an Infizierten, die sterben (und nicht die gern zitierte höhere Case Fatality Rate). Nur ist dieser harten Zahl zugleich ein weicher Faktor eigen – man kann nicht wissen, wie viele Leute sich tatsächlich infiziert haben. Deshalb besteht hier einiger Interpretationsspielraum, und natürlich gibt es eher besorgte und weniger besorgte Virologen bzw. Epidemiologen. Halten wir uns hier, dem Stil der NZZ entsprechend, an die Nüchternen unter den Rufern. Im Mai 2020 hat Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn, die Heinsberg-Studie veröffentlicht. Sie dreht sich um eine lokalisierbare, massenhafte Verbreitung des Coronavirus nach einer Karnevalsparty. Über 900 Bewohner einer Ortschaft namens Gangelt im nordrhein-westfälischen Kreis Heinsberg wurden für die Studie befragt und getestet. Streeck, zweifellos ein weniger alarmistischer Zeitgenosse als sein Kollege Christian Drosten, kommt auf eine IFR von 0,37 Prozent. John Ioannidis, Professor für Medizin, Epidemiologie und öffentliche Gesundheit in Stanford, hat im Oktober eine Metastudie vorgelegt, die nach Peer-Review durch andere namhafte Wissenschafter im Bulletin der Weltgesundheitsorganisation (WHO) publiziert wurde. Die Infektionssterblichkeitsrate variiert nach Ioannidis’ Erhebungen zwar regional ziemlich stark, doch beträgt der Medianwert 0,23 Prozent – das entspricht 2,3 Toten pro 1000 Infizierten. Sollten Streeck und Ioannidis richtigliegen, würde dies heissen: Sars-CoV-2 ist ein heftiges, ernstzunehmendes Virus. Aber es ist zugleich kein Killervirus wie Sars oder Mers, die ebenfalls zur Corona-Familie zählen. Ein Blick in die Zahlen in der Eidgenossenschaft bestätigt diesen Befund: Das Durchschnittsalter der Toten, bei denen Sars-CoV-2 nachgewiesen wurde, beträgt hierzulande 86 Jahre. Ähnliches gilt nach Ioannidis auch für die Situation weltweit: Die meisten Toten sind über 70 Jahre alt und weisen Vorerkrankungen auf. Gemäss dem Bundesamt für Statistik gibt es auch in der Schweiz keine Übersterblichkeit bei Eidgenossinnen und Eidgenossen, die weniger als 65 Lenze auf sich vereinen. Sars-CoV-2 diskriminiert also brutal nach Alter und Gesundheit, oder anders formuliert: Nicht alle Menschen sind vom Virus gleich betroffen. Warum sollen dann aber alle Menschen unter den harten Corona-Massnahmen gleichermassen leiden? Staat und Eigenverantwortung Natürlich lassen sich mit einem Lockdown in der gegenwärtigen akuten Situation Lebensjahre retten. Aber es handelt sich dabei um eine «plumpe und sehr mittelalterliche Waffe», wie es der Chemienobelpreisträger Michael Levitt sagte. Denn er trifft erstens alle heftig. Und zweitens vernichtet er zugleich eine Menge Lebensjahre von jüngeren Bürgern – nicht nur wegen gesundheitlicher und sozialer Schäden, sondern auch und vor allem wegen Wohlstandseinbussen. Denn reales Wirtschaftswachstum, medizinische Innovation und Lebenserwartung korrelieren stark (vergleiche hierzu die Studie «Verhältnismässigkeit in der Pandemie: Geht das?» des Ökonomen Bernd Raffelhüschen). Schwerwiegende Eingriffe müssen in einem liberalen Rechtsstaat verhältnismässig, alternativlos und evidenzbasiert sein. Doch Hand aufs Herz: Sind sie das wirklich? Es ist in erster Linie Aufgabe der Risikogruppen, sich selbst zu schützen – das kann im Grunde jeder ältere Bürger, indem er sich konsequent isoliert. Wer andere Menschen meidet, eine Maske trägt, nichts anfasst und regelmässig seine Hände desinfiziert, steckt sich kaum mit Sars-CoV-2 an. Er befindet sich sozusagen in einem persönlichen Lockdown. Natürlich bedarf es für Altersheime oder Spitäler, in denen ältere Menschen unfreiwillig mit anderen in Kontakt kommen, darüber hinaus eines intensiven Testings und eines geeigneten Verhaltenssettings. Zudem sollten alle, die können und wollen, ihren Job von zu Hause aus erledigen. Und für unbestimmte Zeit könnte Homeschooling in Kombination mit selektivem Präsenzunterricht gelten. Das ist es, was nüchterne Köpfe wie Streeck, Ioannidis oder in der Schweiz auch Pietro Vernazza seit Monaten fordern. Aber ihre Stimmen werden kaum mehr gehört – die Zeichen stehen auf Sturm. Und ja, die gegenwärtige Lage in den Notfallstationen der Schweizer Spitäler ist alles andere als erfreulich. Die Spitäler stossen zwar insgesamt noch nicht an ihre Kapazitätsgrenzen, doch sind die Intensivbetten in einigen Regionen durch Covid-19-Patienten stark ausgelastet. Manche Spitaldirektoren fürchten, dass das Personal bei anhaltender kritischer Lage nicht durchhält. Nachdem im März der grosse Ansturm von Covid-19-Patienten auf die Spitäler ausgeblieben war, versäumte man es, zusätzliche personelle Kapazitäten im intensivmedizinischen Bereich aufzubauen – stattdessen hatten manche Spitäler Kurzarbeit angemeldet. Dies ist ein folgenreiches und unglaubliches Versagen der gesamteidgenössischen Gesundheitspolitik. Die Regierung und die Bürger Infolgedessen steht nun die Drohung eines weiteren harten Lockdowns auch in der Schweiz im Raum. Aber auch wenn diese Drohung aus dem Versagen resultiert, wirkt sie wie ein Erziehungsprogramm, als müsste der Bundesrat seine ungezogenen Bürgerkinder für ihr Fehlverhalten bestrafen. Und die meisten Bürgerkinder, die zwar pro forma die Faust im Sack machen, haben im Grunde ihres Herzens längst ihren Frieden mit dem neuen Regime gemacht. Sie wollen, dass ihnen jemand hilft, dass ihnen jemand Gewissheit gibt, dass ihnen jemand die Entscheidungs- und Lebenslast abnimmt. Die Pressekonferenzen der Landesmütter und Landesväter alias Bundesrat sind zu volkspädagogischen Veranstaltungen geworden, die die Bürger an ihren Bildschirmen mitverfolgen, um ihr wöchentliches Lob und ihren Tadel abzuholen. Die Regierung – der Vormund? Und die Bürger – die Mündel? In den letzten Wochen und Monaten hat sich gezeigt, dass der Etatismus nicht in erster Linie ein ökonomisches, sondern ein mentales Phänomen ist. Er kommt im immergleichen Reflex zum Ausdruck, der sich durch alle möglichen Debatten, Berichte und Sendungen zieht: Es gibt da stets einen anderen, der es besser weiss als ich, der mir die Entscheidung und also auch die Verantwortung abnimmt und der zuletzt für mich sorgt. Doch ist dies nur scheinbar die Lösung der Probleme, in Wahrheit werden zahlreiche neue geschaffen – die Unzufriedenheit der Bürger und Bürgerinnen mit dem Status quo ist deshalb, nicht weiter erstaunlich, mit Händen zu greifen. Das kollektivierte Leben ist zweifellos bequemer, aber es macht immer abhängiger und darum bestimmt nicht glücklicher. Der betreute und der selbständige Mensch Der deutsche Soziologe Helmut Schelsky hat 1973 in einem legendären Beitrag die seiner Meinung nach für westliche Gesellschaften entscheidende Frage neu formuliert: Wollt ihr selbständige oder betreute Bürger sein? Mit der Gegenüberstellung von «betreutem Mensch» und «selbständigem Mensch» wollte er die alten, soziologisch zu wenig aussagekräftigen Unterscheidungen zwischen Citoyen und Bourgeois, zwischen Kapitalist und Proletarier, zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer überwinden. Schelsky machte die Gegenüberstellung an dem fest, was er die «geistig-moralische Selbständigkeit» des Individuums nennt – den Willen, selber zu denken, zu handeln und dafür Verantwortung zu übernehmen. Rund ein halbes Jahrhundert nach Schelskys Publikation kennen wir nun alle die Antwort, die Corona-Pandemie führt sie uns brutal vor Augen: Der betreute Mensch hat auch in der Eidgenossenschaft obsiegt. Einerseits sind die Staatsausgaben seit den 1970er Jahren in unglaublichem Masse gestiegen, ebenso wie die Fiskalquote, die Zahl der Angestellten staatlicher Institutionen bzw. staatsnaher Industrien und der Einfluss des staatlichen Akteurs auf unser gesellschaftliches Leben. Zugleich – und noch wichtiger – hat der moderne Bürger den Staatsreflex verinnerlicht, Eigeninitiative und Eigenverantwortung sind zu blossen Worthülsen geworden. In Schelskys Worten: Die «Verunselbständigung des Menschen» ist komplett. Toren sind wir in der Tat. Also haben wir im Corona-Jahr vielleicht doch noch etwas gelernt.
30 Kommentare Carlo Bernasconi vor etwa 4 Stunden 34 Empfehlungen Als ganz persönlichen Weihnachtswunsch würde ich mir von ganzem Herzen wünschen, dass alle Bewohner der Schweiz und alle Politiker diesen Artikel lesen müssten, um endlich wieder einmal Eigenverantwortung und Selbstbestimmung als wichtigstes Gut der persönlichen Freiheit zu erkennen und zu fördern. Lasst uns dieses schwer erkämpfte und über Generationen erarbeitet kostbare Gut nicht mutwillig oder dummerweise auf dem Altar des "Coronaetatismus" (andere nennen es auch "Coronadiktatur") opfern.