Wann ist der Preis für die Pandemiebekämpfung zu hoch? Christina Neuhaus 15.02.2021 NZZ NZZ Bei der Bekämpfung der Pandemie galt die Frage nach den wirtschaftlichen und sozialen Folgekosten lange als unanständig. Höchste Zeit, ihr nachzugehen. Christina Neuhaus 145 Kommentare 15.02.2021, 06.00 Uhr Unter dem sperrigen Titel «Trade-offs bei der Pandemiebekämpfung» hat der liberale Think-Tank Avenir Suisse heute Montag ein Papier veröffentlicht, das es in sich hat. Auf neun Seiten sind hier die Gewissensfragen aufgelistet, denen wir seit fast einem Jahr ausweichen: Ist es gerechtfertigt, dass fünf Personen ein Jahr lang unter Teil-Lockdown-Bedingungen leben müssen, um das Leben eines Menschen ein Jahr zu verlängern? Wenn nicht, wo liegt die Grenze? Ist es zu verantworten, die Freiheitsrechte der gesamten Bevölkerung zu beschneiden, wenn die Tödlichkeit des Virus für Nichtrisikogruppen praktisch bei null liegt? Zahlt die Jugend den höchsten Preis? Werden die gravierenden wirtschaftlichen und psychosozialen Kosten der Pandemiebekämpfung richtig gewichtet? Wie gehen wir mit Impfverweigerern um? Zu welchem Preis erkaufen wir uns die vermeintliche Sicherheit vor der Seuche? Jan Huebner / Imago Die Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Zumal der Bundesrat offenlässt, welche Ziele er mit seiner Covid-19-Strategie eigentlich verfolgt. Geht es noch immer darum, die Spitalkapazitäten zu gewährleisten? Sollen so viele Todesfälle wie möglich verhindert werden? Oder ist das Ziel, die Anzahl der Infektionen tief zu halten? Lockdowns seien dann das richtige Mittel, wenn es darum gehe, genügend Spitalbetten für alle Kranken zur Verfügung zu stellen, sagt der australische Philosoph Peter Singer in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag». Das zweite vernünftige Argument für einen Lockdown laute: «Es gibt eine Impfung, und wir wollen verhindern, dass die Leute krank werden, bevor sie geimpft werden.» Einen Lockdown zu verordnen, nur um zu verhindern, dass sich mehr Menschen infizieren, ergäbe hingegen keinen Sinn. Sonst würden nie genug Menschen immun gegen das Virus. Die Fragen nach den Folgekosten der Covid-19-Strategie werden nicht verschwinden. Wir können sie so lange ignorieren, wie wir es aushalten. Los werden wir sie nicht mehr. Immer mehr Menschen leiden an Einsamkeit, Zukunftsängsten und psychischen Störungen. Die volkswirtschaftlichen Schäden der Pandemiebekämpfung sind enorm. Wegen der Schliessung von Geschäften und Restaurants werden pro Woche rund 700 Millionen Franken weniger an Wirtschaftsleistungen erbracht. Am Wochenende haben sich gleich mehrere Verbands- und Kantonsvertreter kritisch über die Strategie des Bundesrats geäussert. Auch bei den politischen Parteien hat sich der Ton verschärft. Die FDP fordert einen Ausstiegsplan. Die SVP versucht, vom zunehmenden Unmut in der Bevölkerung zu profitieren und wirft dem Bundesrat Willkür und Versagen vor. Sogar Die Mitte, die sich lange kritiklos hinter den Bundesrat gestellt hatte, hat festgestellt, dass die Fallzahlen sinken, und fordert «eine kohärente, gut nachvollziehbare Strategie». Es sind schwierige Fragen, die sich uns stellen. Aber die Zeit für die Suche nach Antworten ist reif. Wir wissen heute mehr über das Virus als im Frühjahr, und wir haben bessere Mittel, die Pandemie zu bekämpfen. Mit Massentests lassen sich Ausbrüche schneller feststellen und eindämmen. Mit der Impfung ist die Hoffnung zurückgekehrt. Bereits sind 80 Prozent der Heimbewohner geimpft. Damit stellt sich auch die Frage der Eigenverantwortung neu. Avenir Suisse formuliert sie so: Sind die Einschränkungen der Grundrechte noch legitim, wenn alle Personen aus den Risikogruppen die Möglichkeit einer Impfung haben? Und wenn ja: Welche Beschränkungen sind verhältnismässig? Der Think-Tank kommt zu dem Schluss, dass der Bundesrat zu lange ausschliesslich epidemiologische Bedenken berücksichtigt hat. Das hauptsächliche Ziel der Pandemiebekämpfung solle jedoch nicht mehr nur die Minimierung von Infektions- und Todesfallzahlen sein, sondern «maximale soziale Wohlfahrt». Die Frage nach den wirtschaftlichen und sozialen Folgekosten galt lange als unanständig. Deshalb haben wir sie unanständig lange ignoriert. Schauen wir weiter weg, werden wir zusehen, wie die grosse Solidarität der Bevölkerung zerfällt und aus ihren Trümmern die Wut wächst.
145 Kommentare Peter Müller vor etwa 5 Stunden 54 Empfehlungen Die Fragen, die nun von «Avenir Suisse» erhoben werden, haben sich sicher viele Menschen im Land schon seit einem Jahr gestellt. Warum stellen sich die Regierungen diesen Fragen nicht? Mein Antwort lautet: es liegt am Wettbewerb im «Infektionszahlennationalismus» der Staaten untereinander, der vom Volk und den Medien penibel überwacht wird. Nachweislich wurde das Volk zu Anfang der Pandemie verängstigt um es folgsam zu machen. Jetzt steckt die Angst so tief in vielen Menschen, dass man nicht mehr zurück kann. Meines Erachtens hat man es bewust vermieden, Reiskiogruppen effektiv zu schützen, weil dann große Teile der Bevölkerung keinen Grund mehr sehen, die Maßnahmen aufrecht zu erhalten. Das führt dann automatisch zu hohen Infektionszahlen unter der jungen Bevökerung. Die will man aber wegen des «Infektionszahlennationalismus» vermeiden. Die Ängstlichen würden noch ängstlicher und fühlten sich von der Regierung nicht mehr beschützt (Beispiel Schweden). Weil die Angst eine sehr starke Triebfeder ist und sie zur Risikovermeidung führt, denk man an die Folgen der Riskiovermeidung erst viel später. Wenn die Angst verflogen ist. Solange gilt es aber für den Staat, die Angst aufrecht zu erhalten. Jürg Simeon vor etwa 6 Stunden 50 Empfehlungen Ich habe den Bundesrat in der Vergangenheit verteidigt, zwar eher zu vorsichtig, aber doch mit einigermassen nachvollziehbaren Entscheiden. Seit dem Auftauchen der britischen Virusmutation ist jedoch worst case Angst ausgebrochen. Berset wirkt autistisch bis diktatorisch. Das muss aufhören, Läden auf und nachher die Restaurants.