In der Pandemie zeigt sich die moderne Angst vor der Freiheit Rudolf Brandner 08.10.2020 NZZ Gastkommentar Die Dramatisierung öffentlichen Lebens angesichts der Pandemie führt zu einem neuen Gemeinschaftsgefühl. Aber wo bleibt der nachdenkliche, abwägende und gebildete Mensch, der nach seinem Gewissen Entscheidungen fällt? Rudolf Brandner 48 Kommentare 08.10.2020, 05.30 Uhr Die Schreckensszenarien der Pandemie üben nicht nur auf die politisch Handelnden suggestive Wirkkraft aus: Besucher des Domino-Parks in New York, placiert mit dem von Kreisen vorgeschriebenen Abstand. Braulio Jatar / Imago Kaum ein anderes Ereignis der letzten Jahrzehnte hat die Unterscheidung von Eigen- und Staatsverantwortung so ins Schleudern gebracht wie die Corona-Krise. Dass der Einzelne sich vor Gefahren für Leib und Leben wie Infektionen schützt und es Aufgabe des Staates ist, ihn vor allgemein bekannten Risiken, so auch Reisen in Gefahrengebiete zu warnen, galt bis anhin als selbstverständliche Abgrenzung der verschiedenen Kompetenzbereiche. Denn zum modernen Freiheitsbegriff gehört die Selbst- bzw. Eigenverantwortung: Es ist Sache des Einzelnen, wie er sich ernährt, ob er raucht oder trinkt und womit er seine Freizeit verbringt. Genau dies aber hat sich nun mit Covid-19 grundsätzlich verändert: Das staatliche Handeln greift via Infektionsschutz auf das eigenverantwortliche Handeln seiner Bürger über und masst sich damit eine Schutzfunktion an, die einzig und allein in der Freiheit und Selbstverantwortung des Einzelnen liegt. Unter welchen Bedingungen ein solcher Ausgriff legitim wäre, liegt auf der Hand: Einerseits müsste die Infektionsgefahr mit einer erheblichen Letalitätsrate einher gehen (Massensterben) und die Gemeinschaft als solche einer existentiellen Vernichtungsgefahr aussetzen – wie zu Zeiten der Pest. Andererseits müsste der staatliche Versuch, an die Selbstverantwortung der Einzelnen zu appellieren und gewisse Vorsichtsmassregel einzuhalten, fehlgeschlagen sein. Schreckensszenarien Angesichts einer massenhaften Verantwortungslosigkeit Massnahmen zum Schutz der Gemeinschaft gesetzlich durchzusetzen müsste als ultima ratio aber immer dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit entsprechen. Nun wäre es im Februar/März 2020 durchaus denkbar gewesen, dementsprechend zu verfahren. Warum ist es anders gekommen, und zwar so, dass die Eigenverantwortung des Einzelnen kassiert und an den Staat übereignet wurde? Es sind weniger die harten wissenschaftlichen Daten als ihre digitale Modellierung (Computersimulation) zu mutmasslichen Schreckensszenarien, die eine suggestive Wirkkraft auf die politisch Handelnden haben. Zugleich übt die digitale Vernetzung der globalisierten Welt einen beträchtlichen Konsensdruck aus, der in mimetischen Angleichungsprozessen endet: «Wenn die Anderen das so machen, machen wir das auch so, dann kann man uns nichts vorwerfen». Geht es schief, dann waren es alle und die Verantwortung ist eine kollektiv geteilte – sie diffundiert ins Unzurechenbare. Kommt hinzu, dass der massenpsychologische Druck, der auf den politischen Entscheidungsträgern lastet, die Verantwortung auf umfassende Kollektive wie die EU, WHO oder Uno verlagert: Verantwortungsdiffusion, bekannt und namhaft gemacht als entscheidendes Demokratiedefizit der EU-Institutionen. Keiner will’s gewesen sein. Und doch waren es wie in einem Krimi von Agatha Christie irgendwie alle. Es fehlt die personal übernommene Verantwortlichkeit des Handelns. Verstärkend hinzu kommt der technologische Druck. Wie schon in der Digitalisierung der Finanzwirtschaft mehrt sich auch in anderen Bereichen der Zug zur Entäusserung personalen Menschseins an digital kodierte Algorithmen. Diese lösen automatisierte Entscheidungs- und Handlungsketten aus, ohne dass unsere Entscheidungen – Nachdenken, Besinnung, Abwägen – als Störfaktoren dazwischentreten könnten. Das menschliche Denken reagiert mechanisch berechnend auf den Info-Input, der ein Simulacrum dessen abgibt, was er sich als «Intelligenz» vorstellt. Daher der Zug zur KI, die den Menschen noch beim Einkaufen oder Autofahren von seiner selbstbestimmten Freiheit, von eigenverantwortlichem Denken und Handeln erlöst. Es lässt sich wieder frei befehlen So wird, sobald die WHO eine «Pandemie» – nach welchen fragwürdigen Kriterien auch immer – ausruft, ein Mechanismus in Gang gesetzt. Hier kommt jene politische Selbstermächtigung zum Zug, die einen ungeheuren Machtzuwachs verspricht: Angesicht von Todesangst und Massenpanik lässt sich endlich wieder ungeniert frei von der Leber weg befehlen, was das Ohnmachtsgefühl demokratischer Entscheidungsprozesse und ihrer elenden Kompromisse kompensiert. Aber dies ist nur möglich, weil es auf der anderen Seite auf die Unterwerfungslust der Massen trifft, endlich wieder gesagt zu bekommen, wo’s lang geht: Die existentielle Leere und Orientierungslosigkeit bekommt einen Inhalt zugewiesen, der, wenn nicht das «ewige», so doch das «gute» Leben verspricht. Was sich die Menschen angesichts der Dramatisierung öffentlichen Lebens an absurden Regelungen, widersprüchlichen Verordnungen und puren Schikanen gefallen lassen, ist schon erstaunlich. Es ist die moderne Angst vor der Freiheit, die alle Selbstverantwortung von sich abwirft und auf anonyme Kollektive und Instanzen überträgt, in denen der nachdenkliche, besinnliche, abwägende und gebildete Mensch, der im Angesicht seines Wissens und Gewissens Entscheidungen fällt, fehlt. Wenn nur ein einziger politischer Entscheidungsträger den Mut zur evidenzbasierten Vernunft und selbstverantwortlichen Besinnung hätte und entsprechend alle Corona-Massnahmen mit sofortiger Wirkung aufhöbe: dann wäre der ganze Spuk im Nu vorbei. Aber genau dafür möchte keiner die Verantwortung übernehmen; und für die Kollateralschäden der Massnahmen gilt ja: Verantwortungsdiffusion. Wie bei Agatha Christie. *Rudolf Brandner* lebt als freier Philosoph in Freiburg im Breisgau und Berlin.