«Cancel Culture» unterdrückt das freie Wort und trifft Demokratien am empfindlichsten Punkt Thomas Ribi 30.09.2020 NZZ Offene Gesellschaften leben vom Widerspruch. Doch das freie Denken wird immer mehr eingeschränkt. Thomas Ribi 5 Kommentare 30.09.2020, 05.30 Uhr Wer stört, muss in die Schmuddelecke! «Cancel Culture» unterdrückt das freie Wort und trifft Demokratien am empfindlichsten Punkt Da brandet sie an, die Welle von Hass und Empörung. Und reisst alles mit, was nicht sein kann, weil es nicht sein darf. Rafael Marchante / Reuters «Cancel Culture» gibt es nicht. Wer das Gegenteil behauptet, will bloss die linke Identitätspolitik diskreditieren und entlarvt sich damit als das, was er selber kritisiert. Der Vorwurf, der öffentliche Diskurs werde mit Sprechverboten und Verunglimpfungen so weit eingeschränkt, dass ein freier Austausch von Ideen, Argumenten und Meinungen kaum mehr möglich sei, zielt ins Leere. Wer von «Cancel Culture» spricht, sieht Gespenster, will unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit im besten Fall absurde, im schlimmsten Fall menschenverachtende Ideologien salonfähig machen oder glaubt an Verschwörungstheorien. Womöglich alles zusammen. So tönt es im Lager derer, die sich als linksliberal bezeichnen. In Kreisen, die es sich am liebsten dort gemütlich machen, wo niemand stört. Unter ihresgleichen, wo man sich darauf verlassen kann, dass nur Meinungen geäussert werden, die auch wirklich als Meinung gelten dürfen. Geprüfte Meinungen. Für gut befunden von Instanzen, die festlegen, was man denken darf und was nicht. Grosskonzerne sind, zum Beispiel, schlecht, Nationalstaaten ein Auslaufmodell der Geschichte und Männer die Species, welche die Welt an den Rand des Abgrunds manövriert hat. Ganz leicht kann man sich so ein widerspruchsfreies Weltbild zimmern. Wenn da nur nicht die anderen wären. Die, die meinen, anders denken zu müssen. Falsch eben. Das ist bedauerlich – und verlangt nach entschlossenem Handeln. Wer die Welt nicht so sieht, wie man sie sehen muss, hat sich auf etwas gefasst zu machen, besonders wenn es um Reizthemen wie Feminismus, Migrationspolitik oder den Klimawandel geht. Nicht dass er auf Kritik und offene Opposition stossen würde. Nicht dass man versuchen würde, ihn mit Argumenten vom Gegenteil zu überzeugen. Wer da, wo es weh tut, vom politischen Mainstream abweicht, verdient nach Ansicht der Gralshüter des Richtigen im Grunde nicht einmal Widerspruch. Man stellt ihn in die Schmuddelecke. Weil das, was er vertritt, ewiggestrig ist. Dumm, gefährlich. Selbstzensur wird normal Dass es in politischen und gesellschaftlichen Fragen keine unangreifbaren Wahrheiten gibt, sondern nur das stetige Ringen um Positionen, will man nicht wahrhaben. Was falsch ist, ist falsch und muss nicht diskutiert, sondern abgedrängt werden. Ob es um Corona, Flüchtlinge oder Genderfragen geht. Was die eigenen Denkgewohnheiten infrage stellt, was irritiert, provoziert, wird nicht bekämpft, sondern aus der Diskussion verbannt. Wenn möglich zu Tode geschwiegen. Toleranz? Selbstverständlich, aber nur so lange, als niemand die Unverschämtheit besitzt, sie herauszufordern. Debatte? Immer, aber bitte nur da, wo man sich in guter Gesellschaft weiss: unter Gleichgesinnten. Ein Beispiel aus dem Zentrum des Geschehens: Mitte Juli reichte die «New York Times»-Kommentatorin Bari Weiss ihre Kündigung ein. Nach Donald Trumps Wahl war sie zur Zeitung geholt worden mit dem Auftrag, das konservativ-republikanische Milieu zu beobachten. Das tat sie. Ernsthaft und ohne die Herablassung, mit der linksliberale Demokraten Trump-Wähler zu behandeln pflegen. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein, aber Weiss kam unter Druck, auch redaktionsintern. Nach knapp zweieinhalb Jahren hatte sie genug. In einer Zeitung, in der Gesinnung wichtiger sei als die selbständige Auseinandersetzung mit Fakten und Meinungen, gebe es keinen Platz mehr für unabhängige Journalisten, kritisierte sie. Auf der Redaktion herrsche zusehends eine illiberale Atmosphäre, Selbstzensur werde normal. So könne sie ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen – und eine Zeitung wie die «NYT» auch nicht. Weiss hatte kurz zuvor einen Aufruf auf der Website des «Harper’s Magazine» mitunterzeichnet, in dem 150 prominente Autoren, Wissenschafter und Intellektuelle von Salman Rushdie, Daniel Kehlmann und Margaret Atwood bis zu Francis Fukuyama, Noam Chomsky und J. K. Rowling das illiberale Meinungsklima in den USA kritisierten. Wo selbst kleinste Abweichungen von einer als politisch korrekt definierten Norm mit Drohungen und Diskussionsverweigerung beantwortet würden, so hielten sie fest, sei ein Diskurs nicht mehr möglich. Was man nicht sagen darf Wenige Wochen bevor der offene Brief publiziert wurde und Bari Weiss kündigte, war der für die Meinungsseiten zuständige Redaktor der «New York Times» unter dem Druck der Redaktion zurückgetreten. Sein Vergehen: Er hatte einer nicht mehrheitsfähigen Meinung Raum gegeben und als Gastbeitrag den Text eines republikanischen Senators abgedruckt, der verlangte, dass Armee-Einheiten eingesetzt werden, um die «Black Lives Matter»-Demonstrationen unter Kontrolle zu bringen. Eine bedauerliche Panne, kommentierte der «NYT»-Herausgeber Sulzberger umgehend und versprach, so etwas werde nicht mehr vorkommen. Diesseits des Atlantiks laufen die Maschinen noch nicht ganz so heiss. Aber fast. Die deutsche Philosophin und Autorin Svenja Flasspöhler kam vergangenes Jahr unter die Räder, weil sie es gewagt hatte, Fragen zur #MeToo-Bewegung zu stellen. In ihrem Buch «Die potente Frau» hatte sie die Befürchtung geäussert, die Fixierung auf den Kampf gegen das Feindbild des bösen weissen alten Mannes lege Frauen auf die Opferrolle fest. Eigentlich, so mahnte sie, müssten Frauen zu einer Position der Stärke finden und Verantwortung übernehmen. Das war zu viel. In den einschlägigen Social-Media-Kanälen wurde sie überschüttet – wohlgemerkt nicht mit Kritik, Einwänden, Gegenpositionen. Sondern mit einer Welle aus Empörung, Hass, Häme und Drohungen. Wer sagt, was man nicht sagen darf, das machte die Community der Gutmeinenden deutlich, hat kein Recht, sich öffentlich zu äussern. Bereits früher hatte Flasspöhler in einer Stellungnahme bei «Deutschlandfunk Kultur» beklagt, in der politischen Öffentlichkeit gehe es nicht mehr um die Unterscheidung zwischen rechts und links, sondern um einen Riss, der die, die noch bereit seien, zuzuhören und zu verstehen, von denen trenne, die es nicht mehr seien. Nach einem knappen Jahr gab Flasspöhler ihre Tätigkeit bei «Deutschlandfunk Kultur» auf. Beifall von der falschen Seite Flasspöhler ist nicht die Einzige, die erlebt hat, was es heisst, aus dem Diskurs gedrängt zu werden – nicht mit Argumenten, sondern indem man für nicht satisfaktionsfähig erklärt wird. Man muss die Beispiele der Kabarettisten Lisa Eckhart und Dieter Nuhr gar nicht bemühen, die in jüngster Zeit für Schlagzeilen sorgten. Die Entwicklung greift überall um sich. Nicht nur in der Politik, in den Medien und in der Kulturszene. Auch an den Hochschulen, die von Orten des freien Denkens immer mehr zu Safe Spaces werden, wo nicht mehr zählt, was die Vernunft auf seiner Seite hat, sondern das, was niemanden stört. Vor zehn Jahren schon lief der Starreporter Birk Meinhardt bei der «Süddeutschen Zeitung» auf, als er einen Text über zwei Rechtsradikale schrieb, die zu Unrecht verurteilt worden waren. Der Beitrag war sachlich absolut korrekt. Gedruckt wurde er nicht. Begründung: Neonazis könnten ihn ins Feld führen, um die Unbefangenheit der Justiz anzuzweifeln. Entscheidend ist also nicht, was Sache ist, sondern ob eine Position allenfalls Beifall von einer Seite bekommen könnte, mit der man lieber nichts am Hut haben will. Man kann natürlich behaupten, «Cancel Culture» gebe es nicht. Man muss nur tapfer die Augen davor verschliessen, dass im öffentlichen Diskurs mehr und mehr nur noch sein kann, was sein darf. Dass es Wahrheiten gibt, die über allen Argumenten stehen, und andere, die ausgeblendet werden, weil sie nicht ins Bild passen. Weil es zu anstrengend wäre, gegen eine fremde Meinung zu argumentieren, auch wenn man sie verabscheut – und dabei die eigene Position in deren Licht zu prüfen. Bei Baron d’Holbach Im Oktober 1766 kam der Mailänder Rechtsphilosoph Cesare Beccaria nach Paris, auf Einladung der Aufklärer, die sich allwöchentlich im Salon des Barons d’Holbach an der Rue Royale Saint-Roch trafen. Zum Essen, Trinken und vor allem: Debattieren. Kurz zuvor war Beccarias Buch «Dei delitti e delle pene» («Von den Verbrechen und von den Strafen») in französischer Übersetzung erschienen, ein flammendes Plädoyer gegen die Todesstrafe, das Intellektuelle in ganz Europa in Aufregung versetzte. Die Philosophen aus Holbachs Kreis, d’Alembert, Helvétius, Buffon und vor allem Diderot, hatten das Buch natürlich gelesen und wollten es mit dem Verfasser diskutieren. Beccaria wurde herzlich empfangen, zuvorkommend behandelt und bewirtet. Aber die Begegnung liess ihn ratlos zurück: Anders, als er erwartet hatte, stiessen seine Thesen bei den /philosophes/ nicht auf Zustimmung, sondern auf scharfe Kritik. Besonders Diderot diskutierte lang mit Beccaria, liess am Ende aber keinen Zweifel daran, dass er seine Ansichten nicht teilte. Die Todesstrafe abschaffen? Auf keinen Fall. Man mochte es für bedauerlich halten, dass sie nötig war, fand Diderot. Aber dass sie nötig war, daran bestand für ihn kein Zweifel. Beccaria verstand die Welt nicht mehr. Da war er Hunderte von Kilometern gereist, um mit Denkern zu diskutieren, die ihm aufmerksam zuhörten, Einwände formulierten, immer wieder Fragen stellten. Und dies, obwohl sie weder mit den Voraussetzungen noch den Folgerungen seiner Arbeit einverstanden waren. Beccaria war enttäuscht, reiste nach kurzer Zeit ab und verliess Italien nicht mehr. Die /philosophes/ aus der Rue Royale Saint-Roch allerdings bereuten die Begegnung nicht. Sie hätten den Querdenker aus Mailand jederzeit wieder eingeladen. Ihr Urteil über «Dei delitti e delle pene» stand unverrückbar fest: ein gescheites und überaus wichtiges Buch, mit dessen Autor man unbedingt reden musste – gerade weil er in fast allen Punkten zum Widerspruch reizte.
5 Kommentare Peter Müller vor etwa 3 Stunden 23 Empfehlungen Im Anfange erschuf Gott Adam und Eva, so steht es geschrieben. Und er sperrte sie umgehend ein ins Paradies, damit sie fortan nach Wille und Vorstellung des Schöpfers leben sollten, der als oberste und absolute moralische Instanz die Regeln vorgab. Doch daraus wurde nichts. Sie entschieden sich für Freiheit und Selbstbestimmung und wurden aus dem Paradies geschmissen. Die Menschen erkannten, dass nicht Gott sie schuf, sondern die Natur durch Evolution. Nicht Moral bestimmte ihr Leben, sondern naturgegebene Triebe, die für das Überleben sorgten. Freiheit und Selbstbestimmung forderten ihr Opfer. Das Leben mit der Natur war hart und ein Überlebenskampf. Das ist es die Freiheit aber wert. Mit "Political Correctness" und "Cancel-Culture" versucht man heute, die moralischen Regeln neu zu definieren. Zurück zum Paradis, zur absoluten Wahrheit. Hin zum alles gleichmachenden Sozialismus. Die moralische Schranke wird zum Denkverbot, ein darüber hinaus wird nicht zugelassen. Jegliche Diskussion darüber wird im Keim erstickt. Die Freiheit, über das moralische Korsett hinweg zu denken, entzieht man sich selbst. Damit zementiert man sich die eigene, absolute Wahrheit. Man leugnet den Widerspruch zu seinen naturgegebenen Trieben, indem man sich selbst zu Göttern macht. 23 Empfehlungen Dieter Krüger vor etwa 2 Stunden 15 Empfehlungen Den Sag-Verboten folgen die Denk-Verbote, das Ziel ist der „neue“ Mensch und wer sich nicht fügt, landet irgendwann als „unheilbar“ oder „unerziehbar“, ja wo? Zumindest im sozialen Abseits. 15 Empfehlungen Alle Kommentare anzeigen