Befehl und Gehorsam sind in der Corona-Krise zurückgekehrt Alexander Kissler 12.11.2020 NZZ Befehl und Gehorsam sind in der Corona-Krise zurückgekehrt In der Corona-Krise entdecken Politiker den Herrenreiter in sich und greifen zum autoritären Wort. Langfristig darf der politische Prozess nicht auf die Ausgabe von Verhaltensmassregeln verkürzt werden. Winfried Kretschmann gehört den Grünen an und ist seit neun Jahren Ministerpräsident von Baden-Württemberg. 2021 will er sich zur Wiederwahl stellen. Marc Gruber / Imago Als der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann unlängst gefragt wurde, wie lange wohl das Partyverbot in der Corona-Krise noch andauere, gab er zur Antwort: bis die Bevölkerung «durchgeimpft» sei. Solange müssten die Bürger ihre Kontakte reduzieren, müssten sich daran gewöhnen, schärfer kontrolliert und härter bestraft zu werden, und müssten mit noch stärkeren Massnahmen rechnen. «Jeder», gab der grüne Politiker bekannt, «jeder hat die Verpflichtung, sich an die Regeln zu halten. Wir können nicht dulden, dass diese Sache nicht ernst genommen wird.» Das grosse Müssen regiert. Es wird wieder angeordnet. Kretschmann ist dabei kein Einzelfall. Der als jovial bekannte Landesvater gehört einer wachsenden Koalition von Politikern an, die in der Corona-Krise eine bemerkenswerte Lust am autoritären Wort entdecken. Auf einer Strecke von unabsehbarer Länge soll die Devise von Befehl und Gehorsam gelten. Die Exekutive gefällt sich zunehmend darin, vom Souverän, dem Volk, nach Art eines unbotmässigen Lümmels zu reden. In vergangenen Zeiten hiess es schlicht, wer nicht hören will, der müsse eben fühlen. Markus Söder will in die «richtige Richtung» führen Heute fordert die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) «Disziplin in alle Richtungen». Ihr bayerischer Amtskollege von der CSU, Markus Söder, erklärt: «Wir wollen lenken, begleiten und in die richtige Richtung führen.» Wer aber legt die richtige Richtung fest, wenn die Corona-Krise überwunden sein wird? Die regierenden Krisenmanager von heute? In einer Demokratie gibt es viele Wege zur Freiheit, aber niemals die eine richtige Richtung. Und demokratisch gewählte Regierungen haben nicht die Legitimation, eine solche Richtung anzuordnen. Die SPD-Politikerin Malu Dreyer regiert seit 2013 als Ministerpräsidentin in Mainz. Auch in Rheinland-Pfalz stehen 2021 Landtagswahlen an. Niemand, der bei Sinnen ist, bestreitet, was der deutsche Bundespräsident klar formuliert. Das Coronavirus ist «gefährlich, es kann Langzeitfolgen haben, es kann Leben zerstören.» Ideologisch motivierte Protestaktionen gegen den Mund-Nasen-Schutz sind albern. Doch was ist gewonnen, wenn Frank-Walter Steinmeier in seiner kurzen Ansprache zur Corona-Lage fünfmal darlegt, was «wir» unbedingt tun und lassen müssen? Wer Abstriche macht am neuen coronalen Verhaltenskodex, der weiss offenbar nicht, was sich gehört. Eine derart hochtourige Verbotsrhetorik mag kurzfristig das Vertrauen in die staatlichen Institutionen stützen; mittel- und langfristig wird so die Loyalität untergraben. Nur jenes Gesetz bindet wirklich, dem der einzelne sich freiwillig und aus Einsicht unterwirft. Nichts nutzt sich schneller ab als moralischer Drill. Die Kanzlerin preist die Wonnen des Verzichts Auch die deutsche Verteidigungsministerin stimmt ein Loblied an auf die neue Alltagsdisziplin und stellt den Gehorsam der Freiheit zur Seite. Annegret Kramp-Karrenbauer schreibt, «je disziplinierter jeder von uns ist, desto weniger verordnete Einschränkungen brauchen wir.» Freiheit sei nie grenzenlos. Zuckerbrot und Peitsche werden zugeteilt, Restriktionen und Erlaubnisse regierungsseitig fein abgewogen – und das Zuckerbrot fällt karg aus. Die Bundeskanzlerin preist gern die Freuden des häuslichen Lebens und die Wonnen des Verzichts. Dahinter steckt nicht nur die begründete Sorge vor Infektionsherden, sondern auch die Sehnsucht nach dem überschaubaren, dem geregelten, dem beschaulichen Leben. Ein neues Biedermeier kündigt sich an. Covid-19 ist weder ein Schnupfen noch eine Erfindung von Bill Gates. Unvernunft steht keinem gut. Doch das Herrenreitertum mancher Politiker befremdet. Menschen können nicht nur Lebenszeit verlieren, sondern auch die Kunst, sie mit Sinn und Freude zu füllen. Hat sich der politische Prozess erst einmal auf die Ausgabe von Verhaltensmassregeln verengt, könnte es schwierig werden, zur bürgerlichen Freiheit zurückzukehren.