Die Regelungswut der Politik ist Ausdruck von Hilflosigkeit. Deutschland muss lernen, mit dem Virus zu leben Eric Gujer 16.10.2020 NZZ Die Politik reagiert mit immer neuen Massnahmen auf die steigenden Corona-Zahlen. Doch Aktionismus bringt medizinisch wenig und gefährdet die Verfassungsordnung. Eric Gujer 172 Kommentare 16.10.2020, 05.30 Uhr Wenn sich Kanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten treffen, werden immer wieder weitgehende Massnahmen ohne Einbezug der Parlamente verhängt. Hayoung Jeon / EPA Eric Gujer, Chefredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung». Deutschland ist bisher besser durch die Corona-Krise gekommen als die meisten anderen europäischen Länder. Die Mischung aus Entschlossenheit und Pragmatismus war das richtige Rezept während des Lockdowns und in den ersten Monaten danach. Doch jetzt verheddern sich Bund und Länder in ihren Schutzkonzepten, und die deutsche Neigung zu Bürokratismus und Staatsgläubigkeit macht sich bemerkbar. Das faktische innerdeutsche Reiseverbot für Personen aus Risikogebieten war von Anfang an eine Schnapsidee. Von einem Berliner, der seine Ferien in Brandenburg verbringen will, geht keine höhere Ansteckungsgefahr aus als von einem Brandenburger, der täglich zur Arbeit nach Berlin pendelt. Dennoch wurde der eine mit einem «Beherbergungsverbot» belegt, der andere nicht. Trotzig verteidigt Ministerpräsidentin Manuela Schwesig das Verbot. Mecklenburg-Vorpommern habe besonders niedrige Fallzahlen, das solle so bleiben. Wenn die Ostdeutsche so leichthin die innerdeutsche Solidarität preisgibt, könnten die westdeutschen Geberländer im Finanzausgleich auf den gleichen Gedanken kommen. Auch in der Krise ist Deutschland noch eine Schicksalsgemeinschaft und nicht eine zufällige Ansammlung von Provinz-Fürstentümern. *Corona schadet dem Rechtsempfinden* Die Kritik an den jüngsten Schutzmassnahmen entzündet sich vor allem an zwei Punkten: an der Durchführbarkeit und dem medizinischen Nutzen. Die sehr viel grundsätzlichere verfassungsrechtliche Bewertung bleibt meist unberücksichtigt. Wer sich in Deutschland nicht frei bewegen kann, weil er in anderen Bundesländern einem Beherbergungsverbot unterworfen ist, muss einen erheblichen Eingriff in seine Grundrechte hinnehmen. Solch eine schwerwiegende Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit kann nicht durch eine Landesregierung auf dem Weg eines einfachen Verwaltungsaktes ausgesprochen werden. Solche Eingriffe erfordern ein Gesetz und die Zustimmung der Parlamente. Dass sich Bund und einzelne Länder bedenkenlos über Selbstverständlichkeiten der Verfassungsordnung hinwegsetzten, zeigt einmal mehr, welche negativen Auswirkungen die Seuchenbekämpfung auf das Rechtsempfinden hat. Im Lockdown gewöhnte man sich daran, dass die Exekutive weitgehende Kompetenzen beansprucht. Bürger wurden in ihrem Staat eingesperrt, Unternehmen zwangsweise stillgelegt. Staatliche Beinahe-Allmacht war in der Anfangsphase der Pandemie noch vertretbar im Sinne eines Notstandes. Nach acht Monaten Erfahrung mit dem Virus kann niemand mehr von einer akuten Notsituation reden. Regierungen und Gesundheitsbehörden hatten genug Zeit, sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten. Dass im Herbst die Fallzahlen wieder ansteigen würden, wurde bereits im Frühjahr prognostiziert. *Nehmen die Parlamente ihre Kontrollfunktion noch wahr?* Wenn sich die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten treffen und weitgehende Massnahmen ohne Einbezug der Parlamente verhängen, so ist das nicht der Not geschuldet. Es geschieht mit voller Absicht. Die Exekutive nutzt die Krise, um die Gewichte zwischen den Verfassungsorganen zu verschieben. Es ist eine schleichende Form der Amtsanmassung. Natürlich verteidigt Kanzleramtsminister Helge Braun das Vorgehen. Schliesslich hält sich das Kanzleramt immer für zuständig, gleichgültig, ob es um die Besetzung der Thüringer Staatskanzlei geht oder die Gesundheitspolitik. Die Parlamente und die Bürger dürfen das nicht hinnehmen. Die Opposition fordert seit langem eine angemessene Beteiligung des Bundestages an den Corona-Entscheidungen. Auch die Fraktionen von Union und SPD sollten darauf bestehen, dass Freiheitsbeschränkungen nicht der Willkür der Exekutive überlassen bleiben. Der Freifahrtschein, den sie der Regierung ausgestellt haben, lässt daran zweifeln, dass sie es mit der parlamentarischen Kontrolle sonderlich ernst meinen. *Die Krisenmanager sind am Ende mit ihrem Latein* Das Beherbergungsverbot und andere Massnahmen wie ein Alkoholverbot ab 23 Uhr sind Ausdruck von Hilflosigkeit. «Bis 23 Uhr darf man sich ins Koma saufen, ab 23 Uhr 30 gibt’s nichts mehr», höhnt Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Eine Sperrstunde in der Gastronomie lässt sich kontrollieren, die Beschränkung der Teilnehmerzahl von Feiern in Privatwohnungen hingegen nicht. Die Widersprüche der Regulierungswut sind offensichtlich. Die Infektionen nehmen zu, doch die Politik hat nicht viele Pfeile im Köcher. Einen zweiten Lockdown will sie unter allen Umständen vermeiden, weil die wirtschaftlichen Folgen verheerend wären. Der Aktionismus soll die Ratlosigkeit kaschieren. Das können Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten natürlich nicht eingestehen. Sie müssten dann nämlich Abschied nehmen vom sorgsam kultivierten Bild der resoluten Krisenmanager. Nun rächt sich, dass die Politik auf dem Höhepunkt der Krise im Frühjahr so tat, als wüsste sie genau, in welche Richtung sie zu steuern hätte, und Kritiker pauschal als Corona-Leugner abstempelte. Im Brustton der Überzeugung pflegt der bayrische Regierungschef Markus Söder über Infektionen und R-Wert zu referieren, als sei Covid-19 eine gut erforschte Krankheit. Dem ist aber nicht so. Niemand vermag deshalb genau zu erklären, weshalb zwar die Fallzahlen steigen, nicht aber im gleichen Ausmass die Zahlen der schwer Erkrankten und der Todesopfer. Heute testet man mehr als im Frühjahr, weshalb mehr asymptomatische Personen und Patienten mit leichten Symptomen erfasst werden. Dann wäre die Dunkelziffer kleiner. Vielleicht spielen aber auch andere Faktoren wie eine teilweise Immunisierung in ein komplexes und noch nicht hinreichend verstandenes Krankheitsgeschehen hinein. Eindeutig ist nur, dass einzelne, in ihrer Bedeutung verabsolutierte Kennziffern wie die Zahl der Neuinfektionen auf 100 000 Einwohner nicht ausreichen, um angemessen zu handeln. Die tägliche Publikation der Ansteckungen, begleitet von dunklen Warnungen, hat sich unterdessen zu einem leicht abstrusen Ritual entwickelt. Das Publikum stumpft auf diese Weise ab, sonst wird damit nicht mehr viel erreicht. *Die Fast-null-Risiko-Strategie ist eine Illusion* Die Politik sollte bescheidener sein und ihre Wissenslücken eingestehen. Nur so lässt sich die Glaubwürdigkeit der Gesundheitspolitik erhalten, die das Fundament der Seuchenbekämpfung ist. Die Bereitschaft, staatlichen Anweisungen zur Eindämmung von Covid-19 zu folgen, ist ohnehin geringer ausgeprägt, als sich viele eingeredet haben. So versicherten Meinungsforscher immer wieder, 90 Prozent der Deutschen hiessen die Vorschriften gut, die Corona-Kritiker seien daher eine verschwindend kleine Minderheit. Angesichts der stark steigenden Infektionen scheint es vielmehr so, als gäben die Bürger Lippenbekenntnisse ab und verhielten sich dann ziemlich sorglos. Ein Teil der Bevölkerung kritisiert die Schutzmassnahmen nicht, er ignoriert sie. Was heisst das für die Seuchenbekämpfung? Drastisch durchzugreifen, womit man wieder beim Lockdown angelangt wäre? Oder die verletzlichsten Personen zu schützen und die anderen trotz anschwellenden Neuerkrankungen möglichst unbehelligt ihr Leben führen zu lassen? Zu hoffen, dass die Menschen ihre Verantwortung erkennen, Maske aufsetzen, keine grossen Feiern veranstalten und im Home-Office arbeiten? Denn eines ist unbestritten: Kluge Selbstverantwortung von Bürgern, Arbeitnehmern und Arbeitgebern bringt mehr als aller staatliche Zwang. Zu den offenen Fragen gehört auch, wieweit sich die Exportnation Deutschland vom Ausland abschotten will. Die meisten Nachbarn haben prozentual mehr Krankheitsfälle, auch die Schweiz. Wenn man innerdeutsche Reiseziele mit Sanktionen belegt, muss das erst recht fürs Ausland gelten. Deutschland wird dann zur Insel im Corona-Meer ringsum. Noch glauben in Deutschland viele Entscheidungsträger und Bürger, dass eine Fast-null-Risiko-Strategie möglich ist, dass sich die Viren weitgehend aussperren lassen – aus einzelnen Bundesländern oder im Verkehr mit dem Ausland. Aber vielleicht ist genau diese Strategie eine Illusion, und auch Deutschland muss lernen, mit dem Virus zu leben. /«Der andere Blick» erscheint immer freitags./
172 Kommentare Hans-Rolf Dübal vor einem Tag 105 Empfehlungen Ein sehr guter, kluger und ausgeglichener Kommentar. Ich frage mich, warum ich als Deutscher eine schweizerische Zeitschrift abonnieren muss, um Qualität lesen zu können. Man muss kein Epidemologe oder Statistiker sein, um zu sehen, dass die nackte Anzahl positiver Testungen ohne Betrachtung der Gesamtanzahl der Tests und ohne die tatsächlich Erkrankten usw. zu erfassen, eine sehr erratische Kennzahl sein dürfte. Nun reist jemand aus einem Gebiet mit der Kennzahl 51 in ein Gebiet mit der Kennzahl 49 und dass soll unterbunden werden, von 49 in 49 aber geht ? Ich sehe die allermeisten Menschen in DE recht verantwortungsvoll, aber auch pragmatisch mit der Situation umgehen. Die Regierung verstrickt sich dagegen in hektischem Aktionismus und verliert möglicherweise dabei ihr wichtigstes Pfand: Vertrauen. Allen voran Herr Söder, der vor der eigenen Haustüre nicht kehren kann, aber dem Rest der Republik den harten Besen verordnen möchte. Die deutschen Medien sind überwiegend stramm auf Regierungslinie, ganz wie zu unseligen Zeiten der deutschen Geschichte. Wann lernen deutsche Journalisten endlich (wieder), dass jede Regierung ein Korrektiv braucht? 105 Empfehlungen Dr. Andreas Kleemann vor einem Tag 83 Empfehlungen Die größte Bedrohung durch Covid-19 ist mittlerweile nicht mehr eine der gesundheitlichen Art, sondern fokussiert sich als wirtschaftliche und politische Gefährdung der demokratischen "checks and balances". Und das nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten EU. Die EU als supranationale "Gemeinschaft" hat ohnehin seit jeher ein höchst bedenkliches Demokratie-Defizit. Doch die nun koordiniert wirkenden Maßnahmen der politischen EU-Bürokraten bergen das Potenzial, aus dem EU-Projekt eine Art totalitäre Klima-Gesundheits-Diktatur zu machen, demgegenüber Unrechts-Systeme wie die frühere DDR wie ein biedermeierlicher Vorläufer wirken. Was im Zuge der Pandemie klar zu konstatieren ist, ist deroffenkundige Versuch, den autoritären "Maßnahmenstaat" gegen den historischen "Normenstaat" (Fraenkel) durchzusetzen: Es ist politikwissenschaftlich gesehen eine Art "Staatsstreich von oben". Vor allem ermöglicht es die thematische Konzentration auf die "Pandemie-Bekämpfung", auf vielen Politikfeldern klammheimlich und unter dem Radar einer kritischen Öffentlichkeit unpopuläre politische Entscheidungen durchzumogeln: Die beabsichtigte Klassifizierung von Windkraftanlagen als "Angelegenheit der öffentlichen Sicherheit" zeigt, in welche Richtung sich die Spielregeln dieser "neuen EU" bewegen: Steil nach unten. Und die "Medien" haben als kritische "vierte Gewalt" - zumindest in Deutschland - fast alle abgedankt. Fazit: Die EU befindet sich auf dem Weg in etwas sehr gefährliches.