«Lockdown light»: Deutsche Politik setzt auf das Prinzip Hoffnung Hansjörg Friedrich Müller 28.10.2020 NZZ NZZ Die neusten Massnahmen gegen die Corona-Pandemie wirken wenig durchdacht, unverhältnismässig und willkürlich. Klüger wäre es, die Politiker würden ihre eigene Hilflosigkeit eingestehen, anstatt das Land einem Experiment nach dem anderen zu unterziehen. Der Berliner Bürgermeister Michael Müller, Bundeskanzlerin Angela Merkel und der bayrische Ministerpräsident Markus Söder (von links) bei der Vorstellung der Beschlüsse am Mittwochabend. Pool / Getty Auf einen «Lockdown light» würden sich die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten der sechzehn Bundesländer auf ihrer Corona-Konferenz einigen, berichteten deutsche Medien im Vorfeld des Treffens. Euphemistischer hätten sie sich kaum ausdrücken können: Was am Mittwoch beschlossen wurde, ist ein tiefer Eingriff in die Freiheit der Bürger. Vier Wochen lang werden weite Teile des öffentlichen Lebens lahmliegen; das Label «light» erscheint dafür geradezu zynisch. Welchen Nutzen die Massnahmen im Kampf gegen die Pandemie bringen werden, ist ungewiss. Dass die Schäden erheblich sein werden, ist dagegen mit Sicherheit zu erwarten. Alles in allem wirken die Beschlüsse wenig durchdacht, teilweise auch unverhältnismässig und willkürlich. Vor allem die wirtschaftlichen Folgen dürften sich als verheerend erweisen: Restaurants und Bars dürfen keine Gäste mehr empfangen, Hotels dürfen nur noch Geschäftsreisende, aber keine Touristen mehr beherbergen. Zehntausende Betriebe müssen um ihre Existenz bangen. Warum Theater, Schwimmbäder und Fitnessstudios schliessen müssen, Schulen und Kindergärten hingegen offen bleiben, erscheint rätselhaft: Ansteckungsgefahr besteht da wie dort. Die Stunde der Wichtigtuer und Denunzianten Auch für das gesellschaftliche Klima wird der zweite Lockdown kaum folgenlos bleiben: Ein gemeinsamer Aufenthalt in der Öffentlichkeit ist nur noch maximal zehn Personen des eigenen sowie eines weiteren Hausstandes erlaubt; Verstösse gegen diese Regelung sollen geahndet werden. Bald schon dürfte die Stunde der Wichtigtuer und Denunzianten schlagen. Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder sprach am Mittwoch von einem «differenzierten Lockdown». Tatsächlich nehmen die Beschlüsse auf regionale Unterschiede kaum Rücksicht: In den ländlichen Regionen im Norden und Osten Deutschlands, die weniger stark von der Pandemie betroffen sind, greifen sie ebenso wie in den sogenannten Corona-Hotspots in Bayern, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Berlin oder Hamburg. Ausscheren mochte am Mittwoch trotzdem keiner, auch nicht der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow, der am Vortag noch darauf gepocht hatte, allfällige Beschränkungen müssten zunächst im Parlament seines Bundeslandes debattiert werden. Auch Virologen zweifeln am Nutzen des Lockdowns Es sei ein schwerer Tag, auch für die politischen Entscheidungsträger, sagte Kanzlerin Merkel am Mittwochabend. Dass sich der Zielkonflikt zwischen Pandemie-Bekämpfung und wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen nicht auflösen lässt, ist nicht die Schuld der Politiker. Dass aber nicht nur Wirte, Hoteliers und sonstige Gewerbetreibende, sondern auch Virologen wie Hendrick Streeck und Jonas Schmidt-Chanasit vom Nutzen eines zweiten Lockdowns alles andere als überzeugt sind, hätte der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten zu denken geben sollen: Für Gebote anstelle von Verboten hatten die Wissenschafter plädiert; zugleich warnten sie vor negativen Folgen eines weiteren Lockdowns auf die Volksgesundheit. Mit den Beschlüssen vom Mittwoch setzt Deutschland auf das Prinzip Hoffnung: Was geschieht, wenn sich der «Wellenbrecher», von dem deutsche Politiker nun gerne reden, als wirkungslos erweist und die Zahl der Neuinfektionen Anfang Dezember erneut steil ansteigt? Wird dann ein dritter Lockdown beschlossen? Wie oft will die Politik das öffentliche Leben noch zum Erliegen bringen? Bis endlich ein Impfstoff gefunden ist? Klüger wäre es, die eigene Hilflosigkeit einzugestehen, anstatt das Land einem Experiment nach dem anderen zu unterziehen.