NZZ vom 17.9.2020, Seite 16 "Muss denn alles anders werden?" Interventionismus ist gerade sehr beliebt. Aber man nehme sich bloss in acht davor. Von Gunnar Kaiser Wenn Gefahr im Verzug ist, ist es nicht unbedingt die Nachfrage nach Intel- lektuellen, die am schnellsten wächst. Bei einem Autounfall wartet niemand sehnlich auf den Ruf «Lassen mich durch. ich bin Philosoph!». Wir wen- den uns doch lieber an die bewährten Experten auf dem verlangten Gebiet. Wenn die Gefahr aber nicht nur ein einzelnes Gebiet betrifft, sondern gleich das ganze System «Gesellschaft» mitsamt all seinen Untersystemen, wer könnte da besseren Rat wissen als «der Spezialist fürs Allgemeine»? Allein, wenn wir unter all den Spe- zialisten, die sich anbieten, den falschen vertrauen, wäre die Gefahr dann nicht noch viel grösser? Ein Blick auf die Wortmeldungen der letzten Monate zeigt: Neben einigen wenigen Mahnern mit ihren Warnungen vor der «Macht- ergreifung der Securitokratie» (Slo- terdijk), vor der «rhetorischen Aus- schlachtung von Bevölkerungsängs- ten» (Zeh) oder vor dem «ständigen Ausnahmezustand», dem wir unsere Freiheit geopfert hätten (Agamben). ergriffen vor allem die «Ewigmorgi- gen» die Gelegenheit, für ihre Weltver- besserungsvorschläge Werbung zu ma- chen. Von wem also lernen? Der neue Mut zum Verbot Die Ewigmorgigen eint neben ihrem utopistischen Furor vor allem ein Mangel an Misstrauen gegenüber star- ken Top-down-Eingriffen in das Leben der Menschen. Sie wissen: Was man- che Menschen nicht einseben wollen, kann der Staat aus guten Gründen er- zwingen. Die meisten Intellektuellen heissen die neu erworbene Machtfülle des Ver- ordnungsstaates und ihre Akzeptanz seitens der Bevölkerung nicht nur gut, sondern instrumentalisieren sie auch für ihre eigenen Gesellschaftsutopien, Sie begrüssen einen Staat, der ein- schreitet und kontingentiert (Precht) Bedenklich ist, wie schnell viele Intellektuelle die nun vorherrschende Rhetorik der «neuen Normalität» übernommen haben. und sehen die Corona-Krise als eine «Art gesellschaftliches Trainingsfeld unter Extrembedingungen» für einen Grossakteur, dem in Zukunft mehr «regulierende Verantwortung» (Reck- witz) zufallen wird. Wenn der Staat doch nur bei noch dringenderen und langfristigeren Her- ausforderungen - soziale Grund- sicherung, Klimaneutralität, ökologi- sche Nachhaltigkeit — so entschieden handeln und mit dem Mut zum Ver- bot rigoros durchgreifen würde! Ein Zurück zur alten Normalität wird es nicht geben (Scobel) - es wird viel- mehr der grosse Umbau der globalen Wirtschaft in eine Kreislaufwirtschaft (Göpel) gefordert. Befremdend ist nicht nur, wie selten didie Ewigmorgigen, die so denken. die verheerenden Nebenfolgen der Inter- ventionen überhaupt in Betracht zie- hen. Bedenklich ist auch. wie schnell sie die nun vorherrschende Rhetorik der «neuen Normalität» übernommen haben — als hätten sie auf nichts sehn- licher gewartet. Dass Intellektuelle für den volks- wirtschaftlichen Schaden ebenso blind sind wie für das unbeabsichtigt her- vorgerufene Leid durch ihre Utopien, ist eine alte Geschichte. Dass sie aber der globalen Beschleunigung so vie- ler bedenklicher Prozesse (Tracking- Apps, Drohnenüberwachung, Verhal- tenszwang auch in öffentlichen Räu- men. digitale Immunitätsnachweise, verschärfte Impinflicht). die mit der Corona-Krise forciert wurde, so un- kritisch gegenüberstehen, stimmt mehr als nachdenklich und wirft die Frage auf: Denken sie eher zu viel oder wo- möglich doch zu wenig? "Wir bleiben zuhause" Manchmal denken wir. das sei die Lösung, Aber wir müssen wieder hinaus, Aushang in Heidelberg im März 2020. Neue Entmündigung All diese Massnahmen könnte man rückgängig machen. auch wenn daran von offizieller Seite kaum Interesse zu bestehen scheint. Was man jedoch schwer rückgängig machen kann, ist die Veränderung der gesclischaftlichen Mentalität, die sich vor unseren Augen abspielt. Nicht nur, dass maximalinvasive Verordnungen beinahe klaglos hin- genommen werden, sie werden auch als alternativlos verteidigt. Kritik hin- gegen wird mit einer gefährlichen Mischung aus Empathielosigkeit und Moralismus unter den Verdacht des Extremismus gestellt. Wer fragt, wie lange die Einschränkungen noch dau- ern und wie weit sie denn noch gehen sollen, steht schnell als Wehrkraftzer- setzer da. So verschieben sich die Grundlinien unserer Vorstellung von einem funk- tionierenden Gemeinwesen hin zur neuen Normalität eines daucrüber- wachten und entmündigten Bürgers -- eine Entwicklung. die nicht erst mit Corona begann. nun aber umso rasan- ter abläuft. Der Grund für die Ignoranz der Ewigmorgigen hinsichtlich der Mass- nahmen ist schnell gefunden: Seit Jahr- zehnten gilt dem (westlichen) Intel- lektuellen der Kapitalismus als Ver- antwortlicher für die Missstände auf der Welt. Vor den schädlichen Einflüs- scn des Überwachungskapitalismus. des Hedonismus-Konsumismus oder der amerikanischen Unterhaltungs- industrie hat er eindringlich gewarnt, doch verantwortlich dafür waren ja «die Konzerne», «die Profitgier» der Unternehmer oder «der Neoliberalis- mus», Die Massnahmen aber sind nicht auf dem Mist des freien Marktes ge- wachsen, im Gegenteil: Der Markt hat. wieder einmal, versagt, und der Staat ist der Retter in der Not - je globaler, desto besser. Doch der Grund für die Blindheit der Ewigmorgigen gegenüber den Veränderungen der gesclischaftlichen Mentalität liegt tiefer. Die Corona- Krise hat gezeigt. dass die Ewigmorgi- gen keinc Begriffe dafür haben. um sie zu fassen und darum auch zu erfassen. Doch diese Begriffe existieren Ja: wlı verdanken sie ebenjenen Intellcktucl- ten, die heute kaum mehr jemand liest. Helmut Schelsky analysiert bereits 1961 in «Der Mensch in der wissen- schaftlichen Zivilisation» die Ablösung der Herrschaft von Menschen über Menschen durch die Herrschaft der Technik. Die Sachzwänge des technisch Machbaren geben nun die Marschrich- tung an. Der Mensch im wissenschaft- lichen Zeitalter wird Zeuge der Aushöh- lung der Demokratie‘ zugunsten eines rein technischen Staates. Diese Sachzwänge offenbaren sich uns auf einmal in Form des bereits er- wähnten Contact-Tracing nach chine- sischem Vorbild, in Form von digita- ler Identität (ID2020) oder bargeld- losem Zahlungsverkehr, die im Zuge von Corona eingeführt und bald als Der Mensch im wissenschaftlichen Zeitalter wird Zeuge der Aushöhlung der Demokratie zugunsten eines rein technischen Staates. selbstverständlich empfunden werden dürften. Wir erleben uns nicht mehr als mitbestimmende Bürger, die den Sach- zwängen des Machbaren andere Werte des Zusammenlebens entgegenhalten dürfen, Schelsky. auf die Gegenwart angewandt: «Der Mensch löst sich vom Naturzwang [dem Virus] ab, um sich seinem eigenen Produktionszwang [den technischen Machbarkeiten der Massnahmen] zu unterwerfen.» Ein Blick in Herbert Marcuses 1964 unter dem Titel «Der eindimen- sionale Mensch» erschienene Stu- dien zur Ideologie der fortgeschritte- nen Industriegescellschaft hilft, ein Ver- ständnis für die Konsequenzen dieser Entwicklung zu bekommen. Marcuse konstatiert die Reduktion der Kul- tur auf cine technologische Rationa- lität und warnt uns vor ciner techno- kratischen Herrschaftswissenschaft, die sich aus Furcht vor einer Refle- xion über grundsätzliche gesellschaft- liche Probleme in die Empirie flüch- tet und die Krise nur noeh verwaltet. So gestaltet sich die offizielle Antwort auf die Pandemiec nur noch als Sache wissenschaftlicher Institutionen. die. obwohl sie seit Monaten im Dunkeln tappen, quasi weltweit die Marschrich- tung vorgeben, Schliesslich zeigt uns Michel Fou- vaults Analyse der Reaktion auf die Pest der frühen Neuzeit, wie Ereig- nisse als gesellschaftspolitische Macht- techniken benutzt werden. In «Über- wachen und Strafen» (1975) geht er dem Gedanken nach, dass die Behör- den die Pest nutzen konnten, um ihre normative Macht auf Individuen anzu- wenden. Das Ziel war die Erzeugung einer gesunden Bevölkerung. Als Mit- tel erhielten Kontrolle und Disziplinic- rung «bis in die feinsten Details der Existenz» ihre Rechtfertigung. Diese Machtmittel waren nach dem Ver- schwinden der Pest dann Bestandteil der neuen Normalität, und vor dieser Gefahr stehen auch wir, wenn die Rhe- torik «Die Zeit nach Corona ist eine Zeit mit Corona» zur Selbstverständ- lichkeit wird. Diese Konzepte eint, dass sie die Entwicklungen hin zu einer dirigisti- schen Überwachungstechnokratie aus den Eigengesetzlichkeiten der Mo- derne heraus erklären. Wir brauchen dafür keine Verschwörungstheorie. Die Pandemie ist hier ein Katalysator, der genau diese Eigengesetzlichkei- ten beschleunigt. aber auch sichtbarer macht, da wir nun die Sachzwänge, das Herrschaftswissen und die Disziplinie- rung am eigenen Leib spüren. Besser zögern Die ewigmorgigen Intellektuellen ru- fen liebend gerne «Vorwärts!» - immer her mit der schönen neuen Welt- ordnung. Ein aufgeklärter, historisch sensibler Intellektueller sollte sich stattdessen, wie Roger Scruton es ein- mal gesagt hat. lieber «Hesitate!» auf die Fahnen schreiben. Dirigistische Weltverbesserungs- pläne lassen sich damit nicht umsetzen. Und es klingt auch nicht so sexy. Denn, wie der Virologe Christian Drosten sagt: «There is no glory in preven- tion.» Und vorzubeugen heisst heute eben auch, die alte Normalität nicht aus Überheblichkeit oder Bequemlich- keit preiszugeben. Gunnar Kaiser ist Schriftsteller urd PhJlo- soph. Zuietzt ist sein Raman «Unter der Haut» im Piper-Verlag erschienen.